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Es fühlt sich an, als sei es schon länger her, weil das Boot inzwischen
eingewintert ist, aber erst gestern früh um neun bin ich von wieck zum
Liegeplatz gefahren, habe mit Hängen und Würgen das Boot in die Box gelegt und
die Winterfahrt zum Abschluss gebracht.
Die letzte Fahrt von Hiddensee bis Wieck war wunderbar. Nach zwei Tagen mit
sehr schlechter Sicht, viel Wind und Regen waren die Wolken am morgen
verschwunden und die Dämmerung leuchtete rot hinter dem östlichen Horizont,
hinter Rügen herauf. Ich war schon früh wach, hatte für die fünfzehn Meilen
bis zur Brücke in Stralsund dreieinhalb Stunden eingeplant, obwohl der Wind
eine schnellere Fahrt erhoffen ließ. Aber allein unterwegs bin ich etwas
langsamer als mit Crew, einfach weil ich weniger Segel setze, so jedenfalls
auf der Hinfahrt. Mit vier bis fünf Knoten und Puffer für bis zu zwei Beaufort
nach oben hatte ich mich damit wohl gefühlt.
Also stand ich früh auf, trotzdem gut ausgeschlafen, weil am abend rechtzeitig
zu Bett, packte das Stromkabel ein, schlug die Segel an, sortierte die Leinen,
startete den Motor. Der Wind wehte inzwischen aus Nordwest, also von schräg
vorne, so, dass das Boot gegen die Mole gedrückt wurde. Ablegen deshalb
problematisch. Zu zweit lässts ich das Boot bei fast jeder Windsituation gut
händeln. Alleine ist das nicht so einfach. Die klassische Situation, wenn das
Boot über die Vorspring manövriert wird, ist allein nicht so einfach zu
bewerkstelligen, vor allem dann nicht, wenn das Hafenbecken recht klein ist. Entweder ich habe Hilfe von außen,
also jemand, der die Leine an Land loswirft, wenn das Boot mit dem Heck
ausreichend weit raus gedreht ist und ich rückwärts fahren kann, oder ich muss
die Leine sehr lang lassen, auf Slip legen und dann kurz nach dem rausziehen
rückwärts nochmal aufstoppen, nach vorne laufen und die Leine lösen. Bei
solchen zeitkritischen Aktionen muss dann aber auch alles klappen, sonst kann
das Manöver schnell aus dem Ruder laufen.
Eine zweite Möglichkeit ist, das Boot mit dem Bootshaken weit genug vom Steg
wegzudrücken, um rückwärts wegzufahren. Das probierte ich aus, während das
Boot noch an den Leinen hing. Funktioniert. Also Leinen los. Ich nehme die
Leinen an Land weg, drücke dann das Boot von Land aus weg von der Mole, steige
an Bord -- leider falsch gemacht. Der Wind schiebt das Boot rückwärts und
drückt es sofort wieder an die Mole, noch bevor ich den Bootshaken ansetzen
kann. Als ich den Bootshaken an der abgerundeten Molenkante endlich angesetzt
habe, machen wir schon rückwärts Fahrt. Ich drücke mit aller Kraft, als mich
plötzlich ein Typ anspricht, der gerade mit seinem Fahrrad vorgefahren ist.
Ich schulde ihm noch Geld. Wegen dem Strom. Kurz bin ich
entgeistert, dann gehe ich ins Cockpit, stoppe das Boot auf und lege die
Vorspring nochmal fest. Ist wohl einer der Fischer. Im letzten Moment. Aber das Manöver war sowieso verpatzt. Wahrscheinlich hat
mir der Fischer sogar irgendwas gerettet, den großen Fender hätte ich
sicher abrasiert und dann wieder auffischen müssen, oder schlimmer,
das Boot wäre mit dem Bugkorb an einem der Dalben hängengeblieben.
Obwohl ich gleich zu Rechtfertigungen greife (ich hätte geschaut, aber da sei
keiner gewesen usw.) bleiben die beiden, inzwischen ist noch ein zweiter
gekommen, freundlich. Fragen, wo ich hin will, ob das Boot den Winter über im
Wasser bleibt und so. Obwohl ich wegen der Brücke ein wenig in Eile bin, bin
ich auch neugierig. Während der Saison kommt man mit den Fischern nicht so gut
ins Gespräch. Im Sommer werden die von Touristen belagert und sind deshalb
meist recht wortkarg. Jetzt im Winter fahren sie auch raus, Hering ist
möglich, aber man weiß es nicht genau, kann auch sein dass nicht. Ein wenig
überrascht bin ich, als einer der beiden meint, dass sie nur bis fünf Beaufort
überhaupt rausfahren. Weniger wegen dem Wind als wegen den Wellen, "da
springen dir die Fische aus der Kiste". Segelboote seien eben stabiler in der
Welle. Stimmt. Und ist mir, wo er das erklärt, auch völlig verständlich.
Irgendwie hab ich trotzdem immer gedacht, dass die Fischer bei jedem Wind und
Wetter rausfahren. Vielleicht weil ich mal während eines Sturms über dem
Greifswalder Bodden zwei Fischer auf dem Ryck gesehen habe, die ihr Netz dort
einholten. Aber der Ryck ist eben ein kleiner Fluss, da gibts keine
ernstzunehmenden Wellen.
Weil ich nur einen Hunderter hab, die Fischer aber nicht wechseln können,
laufe ich zum Verkaufsschalter für die Fähre, wo man mir zwei Fünfziger gibt.
Immerhin. Einer der Fischer macht sich mit einem Fünfziger auf zum Wechseln.
Ich seh die Brücke schon langsam wieder zugehen. Und freue mich dabei heimlich
auf einen Gang in eine der ältesten Hafenkneipen Europas, meine Stralsunder
Lieblingskneipe, die ich bei den letzten Touren leider immer verpasst habe,
weil wir nicht in Stralsund übernachtet haben.
Aber schon ist der Fischer wieder da und hat das Geld gewechselt. Zwei Euro
pro Nacht wollen sie haben für den Strom. Ich drücke ihm einen Zehner in die
Hand, weil ich mit dem Heizlüfter bestimmt für zehn Euro Strom verbraucht
habe. Dann gehe ich an Bord, will jetzt zügig weg. Der zweite Fischer kümmert
sich um die Vorspring und so geht das Ablegen jetzt leicht von der
Hand. Ich winke und grüße, dann gehts raus auf den Bodden.
Weil der Wind während der ganzen Fahrt von hinten kommen wird, habe ich die
35er angeschlagen, das Arbeitssegel für fast alle Gelegenheiten bis fünf
Beaufort. Das Großsegel ist noch im dritten Reff, was gut zur 35er passt. Ein
Stück weiter draußen, Leinen und Fender habe ich schon weggepackt, setze ich
beide Segel. Dann nehme ich Kurs auf das Fahrwasser nach Stralsund. Der Wind
war im Hafen schon nicht schlecht, draußen ist er sogar deutlich stärker. Es
weht mit gut fünf Beaufort, in Böen sechs. Das Boot ist überpowert und
reagiert selbst auf Raumwindkurs sehr nervös. Mit sechseinhalb bis sieben
Knoten rasen wir durchs Fahrwasser. Ich mag schnellsegeln, aber bei diesem
Speed sind wir in zwei Stunden da, also eineinhalb Stunden zu früh. Im
Fahrwasser Segel wechseln geht aber auch nicht. Also schnell. Konzentriert
steuern, die Böen vorhersehen, das nervöse Austicken spüren, bevor es kommt.
Mit etwas Zeit und Konzentration werden meine Ruderausschläge geringer, ich
werde ruhiger, das Boot wird ruhiger. Und während ein Teil von mir beim
Steuern bleibt, lasse ich ein wenig die Gedanken schweifen, blicke zurück zur
Insel, wo ich in den vergangenen zwei Tagen bei ausgedehnten Spaziergängen
durch die abgedeckten Landschaften die reizarme Umgebung erst ertragen und
dann genossen habe.
Kurz vor Stralsund berge ich das Vorsegel und drehe bei. Außer mir ist nur ein
Motorboot unterwegs, das aber schon Kurs auf den Hafen genommen hat und von
uns weg fährt. Ich habe noch eine dreiviertel Stunde Zeit und gehe unter Deck,
koche mir einen zweiten Kaffee, schütte ein paar Nüsse ins Müsli, das ich
schon am Morgen vorbereitet habe. Am Kartentisch überlege ich, ob ich unter
Segeln durch die Brücke gehen kann. Der Wind weht so, dass er uns genau von
hinten schieben könnte. Ob das drin dann tatsächlich so aussieht, lässt sich
von hier draußen aber nicht sehen. Ich lasse das Vorsegel unten und nehme Kurs
auf den Hafen, fahre erstmal ohne Motor rein, das Segel kann ich dann vor der
Brücke immer noch bergen, wenn die Windverhältnisse nicht optimal sind. Denn
optimal müssen sie schon sein. Die Ziegelgrabenbrücke ist massiv, und wenn der
Wind ein wenig seitlich einfällt, bilden sich große Windlöcher. Und das ist
nicht gut, weil in der Durchfahrt immer ein Strom setzt und die dicken
Brückenpfeiler für böse Verwirbelungen sorgen. Das Boot muss immer in Fahrt
bleiben, sonst dreht es sich womöglich kreuz und quer. Und bei der Kälte wäre
im Falle eines Falles auch der Motor nicht schnell genug zu starten.
Aber der Wind steht tatsächlich direkt auf die Brücke. Ich fahre testweise
recht dicht heran, nur mit dem Großsegel kommt das Boot auf genug Speed, um
die Durchfahrt zu machen. Das Signal schaltet um von Gesperrt auf Bitte
Warten.
Zwanzig Minuten später geht die Brücke auf. Bei der Durchfahrt klopft mir das
Herz. Hoffentlich geht das gut. Manchmal nehme ich mir Dinge vor, die mir dann
in dem Moment, in dem ich sie durchführe, ungeheuerlich werden. Zumindest
kurz. Dann sind wir schon durch und folgen dem breiten Fahrwasser.
Von hier aus sind es noch zwanzig Meilen bis Wieck. Gut vier Stunden ist es
noch hell. Der Wind kommt von hinten und weht frisch genug, um uns mit fünf
Knoten oder mehr voran zu bringen. Weil das Boot auf der Fahrt nach Stralsund
mit beiden Segeln so unruhig war, berge ich jetzt das Großsegel und setze nur
das Vorsegel. Vor dem Wind läuft das Boot ruhiger, wenn mehr Segelfläche vorne
ist.
Als der Strelasund nach seinen Mäandern und der Hochspannungsleitung wieder
breiter wird, schalte ich den Autopiloten ein, wandere ein wenig über Deck,
öffne alle Luken, damit das Boot von innen etwas trocknen kann, lege mich im
Cockpit auf die Bank und halte das Gesicht in die Sonne. Der Himmel strahlt in
Blau, vereinzelt schweben weiße Wolken über Land, das Boot zieht seine Bahn
durchs kalte Wasser, niemand sonst ist unterwegs, die Erde, zumindest dieses
Stück, ist wild und verlassen, nur die Seevögel ziehen hier und da fliegend
oder schwimmend ihre Bahnen.
Kurz vor Stahlbrode werden wir langsamer. Ich setze das Großsegel. Langsam
geht der Tag zur Neige, die Sonne senkt sich im Westen schon zum Horizont. Vor
uns öffnet sich der Greifswalder Bodden. Die Luft ist so klar, dass ringsherum
alle Ufer zu sehen sind, und sogar die Silhouette der Greifswalder Oie ist in der Ferne klar
und deutlich zu erkennen. Mir geht das Herz auf und die Sehnsucht, die ich
lange nicht mehr gespürt habe, wird wieder groß. Einfach weiter fahren, raus
aufs Meer, heute abend einen Hafen finden, weil Sturm kommt, nach dem Sturm
weiterfahren, draußen sein, Segel setzen, Segel bergen, Routen planen, Kurse
steuern, den Wind von hinten an den Ohren spüren.
Und doch ist es gut, dass es wieder rein geht. Das anziehende Sturmtief
ist mit seiner warmen Luft (warm = vier bis fünf Grad über Null) das
Schlusswort vor dem Wintereinbruch. Aimé muss an ihren Liegeplatz und
eingewintert werden. Und ich muss wieder ins Warme, Sehnsucht hin oder her.
Die Dämmerung macht es mir trotzdem schwer, rot glüht der Himmel im Westen,
der Mond wird sichtbar, und die ersten Sterne. Die alten Plattformen haben wir
passiert, die Fahrwassertonnen heben sich nur noch als Schatten vor dem
langsam dunkler werdenden Himmel ab, die Leuchtfeuer und Leuchttonnen sind
schon eingeschaltet. Schon vor einer halben Stunde habe ich die
Navigationslichter angemacht, und immerhin ein Boot ist unterwegs, die
Küstenwache auf Patrouille. Letzte Blicke über den Bodden. Obwohl ich den
Kreis nicht geschafft habe, spüre ich ein Gefühl von accomplishment,
ich bin alleine im Winter eine Woche unterwegs gewesen, habe einen Sturm im
Hafen abgewettert, habe der Kälte getrotzt, das Boot alleine gesegelt und
gehändelt, und es hat, neben allem innerlichen Fluchen wenn Wetter oder
Material nicht so mitspielten, wie ich das gerne wollte, große Freude gemacht.
Kurz vor der Hafeneinfahrt berge ich beide Segel und bereite dann die Leinen
vor. Im Hafen ist es fast windstill und ich lege wieder längsseits dort an, wo
die Reise begonnen hat. Das Stromkabel schließe ich diesmal nicht an,
vielleicht erlässt mir der Hafenmeister die Gebühr. Am nächsten Morgen um neun
fahre ich durch die Brücke, die extra für mich geöffnet wird. Vielleicht sogar
das erste Mal in diesem Jahr?
Auf dem Weg zum Liegeplatz kommen mir zwei Fischer in einem kleinen Motorboot
entgegen, der Mann im Bug hebt grüßend die Hand. Die Leinen bereite ich vor,
während wir die lange, breite Gerade entlang fahren. Autopilot machts möglich.
Es hat angefangen zu nieseln und ich habe mir meine Regenhose und meine
Regenjacke angezogen. Der Himmel ist konturlos grau, das Sturmtief Axel
kündigt sich an. Noch aber weht der Wind nur mäßig aus Südwest. Dann sind wir
beim Liegeplatz, am Anfang und am Ende dieser Fahrt. Nachdem die meisten An- und Ablegemanöver in der
letzten Woche gut geklappt haben, vergeige ich das Einparken in die Box
gewaltig (aber ohne Schaden). Jetzt bleibt nur noch, das Boot einzuwintern.
Wasser aus den Leitungen drücken, Segel von der Bordwand weg, zum Teil in den
Salon, damit sie nicht gammeln, Fallen und Reffleinen abschlagen, Wasser aus
der Bilge, alles nochmal durchputzen, Batterien aus dem Barographen nehmen,
Bett abziehen, schmutzige Wäsche einpacken, leere Flaschen wegbringen, die
Heizung nochmal gut durchlaufen lassen, die Motorwelle ordentlich schmieren,
Polster hochstellen, Batterien laden, Achterstag entspannen, Leinen so
einstellen, dass das Boot mit dem Wasserstand auf und ab schwimmen kann, die
Persenning montieren, schließlich ein letzter Blick am Abend und Abschied bis
zum Frühjahr, wenn das Eis, das in den nächsten Wochen kommen wird, wieder
geschmolzen ist, Luft und Wasser wieder wärmer werden und die nächste Fahrt
beginnen kann.
Diesig
Das Jahr ging diesig zu Ende und hat diesig angefangen. Seit zwei Tagen bin
ich in Neuendorf auf Hiddensee. Der Wind weht mit fünf bis sechs Beaufort aus
Südwest. Eigentlich perfekt, um außenrum zurück nach Greifswald zu segeln.
Leider war es gestern und heute so diesig, dass ich nicht alleine durch die
schmalen Boddenfahrwasser navigieren wollte. Teilweise war nicht einmal das
Tonnenpaar kurz vor der Hafeneinfahrt zu sehen. Und um in den Fahrwassern den
Kurs zu halten, braucht man wenigstens Sicht auf zwei Tonnenpaare oder sogar
ein Stück Land hinter der Tonne, wegen der Deckpeilung. Ohne Deckpeilung
vertreibt man schnell, und da hilft es auch nichts, wenn man das nächste
Tonnenpaar sieht, man braucht den Tonnenstrich. Der Seewetterbericht hatte zur
diesig schlechten Sicht auch Nebelfelder angekündigt. Kurz: Ich bin gestern
und heute wegen des unsichtigen Wetters im Hafen geblieben. Und weil für
morgen nördliche Winde und Sonnenschein, für übermorgen aber wieder Sturm
angekündigt ist, fahre ich morgen in einem Rutsch zurück in den Heimathafen.
Die volle Wahrheit ist, dass ich nach den kalten Tagen unterwegs und den
kalten Nächten ohne Strom, also ohne Heizlüfter, nur mit der Bordheizung, gestern auch zu erschöpft war, um bei fünf
bis sechs Beaufort alleine loszufahren.
Die Nacht vor Anker im Strelasund war besonders kalt: Minusgrade. Kam mit dem
Wetter, der Tag war herrlich sonnig gewesen, Hochdruckwetter, und im Hochdruck
ist die Luft eben kalt. Und klar. Als ich abends nochmal an Deck ging, war der
Sternenhimmel unglaublich. So viele Sterne. Ein paar konnte ich erkennen.
Orion, die Pleiaden. Und die Milchstraße war deutlich zu sehen. Wahnsinn. Ich
hatte vergessen, wie großartig es ist, unter einem solchen Himmel zu stehen.
In der Stadt sieht man die Sterne nicht. Jedenfalls sieht man nur die
hellsten, und das sind die wenigsten. Wenn ich bald wieder raus will mit dem
Boot, dann auch wegen diesem Himmel.
Richtig lang konnte ich den allerdings nicht genießen, die Kälte trieb
mich wieder rein. Die Nacht war kalt, der Wind war im Rigg gut zu hören, hielt
sich aber an die vier bis fünf Beaufort aus den Grib-Daten. Ich hatte nach dem
ersten Manöver kurz gedacht, dass ich zuwenig Kette gegeben habe. Und für
stärkeren Wind hätte es auch in der Tat nicht gereicht, verriet der Blick in
die Ankergeschirrdiagramme fürs Boot, aber für den erwartbaren Wind wars okay.
Ich schlief ruhig und fest.
Am nächsten Morgen machte ich die Heizung nicht an, stieg gleich aus dem
Bett, weil bis zur Brücke noch ein paar Meilen zu machen waren. Kaffee brachte
mich hoch. Für diese Situationen lohnt es sich, sonst auf Kaffee eher zu
verzichten. Das Koffein kickt einfach besser, wenn ich dann mal welchen
trinke. Oben an Deck war alles komplett vereist. Obwohl die Sonne schon über
den Horizont gestiegen war, schmolz die Eisschicht nicht ab. Warten ging
nicht. Ich ging vorsichtig zum Bug, immer darauf achtend, die Füße so zu
setzen, dass sie zur abschüssigen Seite des Decks einen Halt haben. Das ging
erstaunlich gut. Klar, rutschig, vielleicht ein bisschen so wie verschneite
Steinstufen, die schon so ausgetreten sind, dass die Stufenfläche leicht
abschüssig ist. Aber auch so eine Treppe kommt man, mit etwas Vorsicht,
hinunter.
Auftakeln dauerte etwas länger, aber dann war das Vorsegel angeschlagen,
das Großsegel klar, und ich holte den Anker auf. Es kam der übliche
Boddenschmodder mit hoch, glücklicherweise erst am Ende, und dafür war es wohl
auch gut, dass ich nicht so viel Kette gesteckt hatte. Eingegraben hatte sich
der Anker jedenfalls, es hingen noch ordentliche Modderbrocken, mit Muscheln,
an der Fluke.
Als der Anker schließlich verstaut war, setzte ich erst das Vorsegel, dann
das Großsegel. Die Sonne schien inzwischen schon etwas wärmer, das Eis schmolz
langsam. Ich hatte das kleine Starkwindvorsegel gesetzt, das Großsegel im
ersten Reff. Damit erreichten wir erstmal nur vier Knoten. Aber als sich
hinter der Hochspannungsleitung der Sund nach Westen wandte, frischte der Wind
ordentlich auf, Aimé legte sich schön auf die Seite und zog heftig an. Als wir
wieder abfallen konnten und Kurs auf die Brücke nahmen, blieb der Wind und
schob und mit sechseinhalt Knoten durchs Fahrwasser. Ankunft deshalb eine
dreiviertel Stunde zu früh. Mir wars recht. Ich barg die Segel und aß den
Frühstücksbrei, den ich vor Abfahrt vorbereitet, aber nicht mehr eingenommen
hatte. Bin nicht so der rustikale Frühstücker. Pain au chocolat und Café
für den ersten Start. Weil ich keine Croissants dabei hatte (wie ginge das
auch? Ich müsste eine ganze französische Bäckerei dabei haben, um mir diesen
Wunsch erfüllen zu können. Deshalb geht die nächste Fahrt definitiv nach
Frankreich.), weil ich also keine Croissants dabei hatte, stieg ich um auf
industriell gefertigte Schokoladentörtchen, in Plastik verpackt. Kein
Vergleich? Kein Vergleich. Aber Frühstück ist Frühstück, irgendwas muss es
halt geben.
Weil ich alleine vor der Brücke dümpelte, ging ich unter Deck, um die weitere
Route nochmal durchzugehen und auf dem Plotter die Strecke nachzumessen. Und
um ein Wenig aus dem Wind zu kommen und mich aufzuwärmen. Als ich wieder an
Deck kam, war da plötzlich noch eine andere Yacht. Wo waren die so schnell
hergekommen? Segel schon eingepackt, vielleicht aus dem hiesigen Yachthafen.
Auf dem Weg durch den Strelasund hatte ich jedenfalls nichts gesehen, auch
nicht in der Ferne. Eine andere Yacht wäre mir aufgefallen. Abgesehen von
einem kleinen Bötchen mit zwei hartgesottenen Anglern war auf dem Sund nichts
los gewesen.
Aimé treibt quer zum Wind. Das andere Boot fährt Kreise. Merkwürdigerweise
ziemlich in meiner Nähe, obwohl eigentlich Platz wäre, es ist ja außer uns
niemand da. Ich versuche Blickkontakt aufzunehmen, aber man registriert mich
nicht. Na gut.
Bald geht die Brücke auf, und nach der Durchfahrt biege ich gleich ab, wieder
raus auf den Sund, während die andere Yacht in den Hafen fährt. Ich setze
wieder Segel und mache mich auf den Weg. Wind von der Seite, Sonne auch, Boot
fährt wie von allein, ich bin gelassen und froh. Öffne die Luken, damit die
trockene Luft ein bisschen durchs Schiff ziehen kann. An der
Fahrwasserabzweigung in Richtung Barhöft hole ich mir die Seekarte nach oben.
Bald geht es los mit den engen Fahrwassern. Ich kenne die Gegend schon seit
vielen, vielen Jahren. Wie oft bin ich hier schon lang gesegelt? Das erste Mal
vor mehr als zwanzig Jahren (allerdings nicht an genau dieser Stelle, sondern
damals noch ein Stück weiter nördlich, von Breege aus nach Hiddensee).
Der Wind ist etwas weniger geworden, aber wir machen mit vier bis fünf Knoten
auch mit den gerefften Segeln ausreichend Fahrt, um noch vor Einbruch der
Dunkelheit in Neuendorf anzukommen. Von hinten kommt ein Segler auf. Offenbar
hat man in Stralsund nur jemanden an Bord genommen und segelt jetzt weiter.
Während wir mit Starkwindbesegelung im Gemütlichkeitsmodus laufen, kommt die
Yacht von hinten unter Vollzeug schnell heran. Im schmalen Fahrwasser kommen
sich die beiden Boote recht nah, und wir wechseln ein paar Worte. Drüben ist
man ausgelassen, ich zähle vier Männer und eine Frau, es wird gescherzt. Nach
Kloster wollen sie, da sei ab dreizehn Uhr am nächsten Tag Silvesterparty. Wo
wir hin wollten? Ich bin doch allein, geht es mir durch den Kopf. Rund Rügen,
sage ich. Was zu dem Zeitpunkt auch noch mein Plan, und zumindest mein Wunsch
war. Aber auch wenn ich in Neuendorf bleibe, weil das Wetter sich
verschlechtert, ist es eine gute Nachricht, dass die große Party am anderen
Ende der Insel stattfindet.
Ein wenig später frischt der Wind böig auf. Ich sehe es in Luv schon dunkel
auf uns zukommen. Aber mit der wenigen Segelfläche haben wir gute Reserven.
Nicht so die andere Yacht, die sich ordentlich auf die Seite legt, dann just
an der Stelle, an der das von der Tiefe her auch möglich ist, aus dem
Fahrwasser ausschert und voll in den Wind schießt, um dann wieder abzufallen
und mit viel Lage weiter zu segeln.
Als wir den Schaproder Bodden erreichen, verlasse ich das Fahrwasser. Hier ist
es tief genug. Kurz überlege ich, ob ich doch in Klimphores Bucht ankern soll.
Aber dann überwiegt mein Bedürfnis nach Landstrom und der Wunsch, nach der
letzten Ankernacht mal wieder einen Fuß auf festes Land zu setzen und einen
Spaziergang zu machen. Ein Stück neben dem Neuendorfer Fahrwasser berge ich
die Segel und bereite Leinen und Fender fürs Anlegen vor. Ich will längsseits
an die Mole, direkt beim Kran, im kleinen Fischerhafen. Dort weht der Wind
jetzt, bei Südwest schräg ablandig, was für mein Anlegemanöver hilfreich ist.
Wenns beim ersten Mal nicht funktioniert, kann ich einfach nochmal anfahren.
Und das Boot liegt später gut in den Leinen. Außerdem, und das ist eigentlich
das wichtigste, steht dort direkt das kleine Häuschen der Neuendorfer
Fischereigenossenschaft. An diesem Häuschen haben die Fischer ihre
Landstromsteckdosen, und ich hoffe, dass da auch jetzt im Winter Strom drauf
ist, selbst wenn im Yachthafen alles abgeschaltet ist.
Als ich fertig bin mit den Vorbereitungen, biegen zwei Fähren aus dem
Hauptfahrwasser ab und nehmen Kurs auf den Hafen. Ich lasse ihnen gerne den
Vortritt. Dann tuckern wir langsam zum Hafen. Die erste Fähre fährt schon
wieder raus, als wir ein Stück vor der Einfahrt sind. Der Kapitän grüßt
freundlich, und ich fühle mich ehrlich ernst genommen, weil man sonst, während
der Saison, von den Fährleuten nicht gegrüßt wird. Verständlicherweise, weil
die sonst aus dem Grüßen gar nicht mehr heraus kämen.
Weil die zweite Fähre am Kai vor dem Fischerhafen liegt, fahre ich erstmal
in den Yachthafen und warte kurz. Überlege, ob ich nicht doch in eine Box
fahren soll. Allein in eine Box. Hab ich schon gemacht. Allerdings nicht bei
soviel Wind. Müsste ich mit Mittelleinen machen. Aber auch dann nicht ganz
einfach. Und vor allem das rauskommen dann, zumal bei Seitenwind, wenn der
Wind dreht. Aber ich bin ja eine Segelyacht, und am Fischerhafen steht ein
großes neues Schild, das sagt: Hier nicht für Sportboote! Dann legt die Fähre
ab. Und ich bin zwar ein Sportboot, aber ich bin auch allein und es ist
Winter, und deshalb fahr ich um die Ecke wie geplant. Mache das Manöver
minimal unaufmerksam und komme ein Stück zu weit weg vom Steg zum Stehen.
Versuche, das große Auge über den Poller zu werfen, klappt aber nicht. Ein
freundlicher Spaziergänger nimmt die Leine an und legt das Auge über den
Poller. Ich belege schnell das andere Ende. Aimé ist schon gute fünf Meter vom
Steg weggetrieben und hängt jetzt nur an der Mittelklampe. Mit Vorwärtsgas
ziehe ich das Boot langsam an die Mole. Der nette Mann hilft mir noch mit Vor-
und Achterleinen. Und fragt dann, während ich noch mit der Vorspring
beschäftigt bin, ob ich Fisch dabei habe. Als ganz ernst gemeinte Frage. Ich
bin baff, aber klar, hier ist der Fischerhafen, hier löschen die Fischer ihre
Ladung, wenn sie welche haben. Fisch hab ich nur in Dosen dabei, ist die
Antwort, die mir erst später einfällt.
Und nun liege ich also seit zwei Tagen froh und warm in Neuendorf. Der
Jahreswechsel hier war wie erhofft unspektakulär. Einmal um acht und einmal um
neun kamen Leute und böllerten jeweils zehn Minuten. Um elf legte ich mich
herrlich müde ins Bett, wachte um zwölf kurz auf von Böllern und Raketen, die
aber alle weit weg waren. Neujahrsspaziergang dann bis zum Gellen, wo der
verbotene Teil der Insel anfängt (Naturschutzgebiet). Auf der Boddenseite hin
bis zur Stelle, wo man anlanden kann, wenn man in Klimphores Bucht vor Anker
liegt. Heute sind hier keine Boote, dafür unglaublich viele Schwäne, was toll
aussieht vor dem diesig-grauen Hintergrund. Die Landschaft ist überhaupt ganz
gedeckt, matte Braun- und Grautöne, was sehr schön aussieht. Ich gehe auf der
Seeseite zurück zum Hafen. Genieße den Wind, der von schräg hinten kommt, so,
wie er auch gekommen wäre, wenn ich die Umrundung gemacht hätte. Aber das
bereitet mir gar keine hätte-wäre-wenn-Gefühle, sondern ist einfach nur eine
lustige Parallele. Ich schaue zwischendurch aufs bedeckte Meer und freue mich
an den Wellen, und genieße es, am Meer zu sein. Denn das musst du dir
vorstellen, ich bin da einfach so am Meer und das ist wunderbar. Auf halbem
Weg steht ein Schwan an einer Buhne, allein, blickt hinaus ins Offene, ohne
ersichtlichen Grund, den Wind von vorne. So beginnt also das neue Jahr. Und
morgen ist schon gleich der erste Segeltag.
Am frühen Morgen, als ich aufwache, ist es draußen noch dunkel. Es ist sieben
Uhr, Sonnenaufgang ist um halb neun. Ich schalte die Heizung an und lege mich
nochmal hin. Seit ich extra für diese Reise einen Kohlenmonoxidwarner besorgt
habe, traue ich mich, die Heizung auch laufen zu lassen, wenn ich in der Koje
liege. Allerdings sollte ich wahrscheinlich den Warner nicht unter einem
Haufen schmutziger Wäsche vergraben..
Um acht wache ich zum zweiten Mal auf. Geplant ist, dass ich um neun Uhr
ablege, damit ich rechtzeitig um zwanzig nach drei an der Brücke in Stralsund
bin. Ich freu mich auf einen Drink und was warmes zu essen in der älstesten
Hafenkneipe der Welt. Und der Wind weht aus Südwest, das bedeutet einmal quer
über den Greifswalder Bodden kreuzen, dann am Wind durch den östlichen
Strelasund, und durch die Schlangenlinien nochmal kurz kreuzen. Das braucht
Zeit.
Um neun Uhr wache ich zum dritten Mal auf. Bin gar nicht überrascht. Will
einfach nur liegenbleiben. Überlege kurz, ob ich das Treffen in Stralsund
woanders hin verlegen kann, nach Sassnitz, oder nach Greifswald, einen Ort
jedenfalls, wo ich erst morgen hinfahren kann. Aber was soll's. Ich bin schon
oft durch die Dunkelheit gesegelt, und die Gegend hier kenne ich gut. Jetzt im
Winter ist auch niemand sonst unterwegs, und Fischernetze habe ich auch noch
keine gesehen. Die Brücke geht um zwanzig nach fünf nochmal auf. Also reicht
es doch, wenn ich um elf ablege.
Um elf Uhr -- wache ich nicht zum vierten Mal auf, sondern lege tatsächlich
ab, nachdem ich freundlich die angebotene Hilfe abgelehnt habe. Was mit einem
Satz quittiert wurde, den ich immer noch nicht ganz verstanden habe: "Man
sollte jetzt auch nicht ins Wasser fallen." Wie ist das gemeint? Dass die
helfende Person Gefahr läuft, ins Wasser zu fallen? Dass ich vielleicht ins
Wasser falle, wenn jemand mir hilft? Oder wirklich als ganz allgemeiner Satz,
dass man in wenige Grad warmes Wasser besser nicht fallen sollte, weil die
lebensnotwendigen Organe nach weniger als zehn Minuten ihren Geist aufgeben,
vorausgesetzt man hat eine Rettungsweste an und ist nicht vorher schon
ertrunken, weil die Muskeln sofort krampfen?
Meine Überlegung zum Liegeplatz hat sich jedenfalls gelohnt. Der Wind drückt
das Boot weg vom Steg. Ich starte den Motor, lege das Boot in die Vorspring.
Es braucht schon ordentlich Druck vom Motor, um sich am Steg zu halten. Dann
nehme ich die restlichen Leinen ab, steige an Bord, nehme einmal Gas weg, löse
die Vorspring und los geht's. Fender und Leinen verstaue ich, während wir noch
im Hafenbecken treiben.
Es weht in Böen schon recht ordentlich, deshalb habe
ich vorhin am Steg die Starkwindfock angeschlagen und das Großsegel ins zweite
Reff gesetzt. Angesagt sind vier Beaufort, zunehmend
fünf bis sechs. Lieber etwas langsamer starten und einen Segelwechsel sparen.
Ausreffen geht außerdem recht schnell. Aber schon auf dem Weg zum
Fahrwasserausgang (ich fahre vom Hafen bis zum Ausgang unter Motor, weil der
Wind direkt von vorne kommt und an einer Stelle am Ausgang zum Bodden recht
wenig Platz zum Kreuzen ist) kommen Zweifel. Besser wäre wohl das größere
Amwindsegel gewesen. Ich setze trotzdem das kleine Vorsegel und setze das Groß
direkt ins erste Reff, anstatt ins zweite. Damit machen wir ausreichend Fahrt,
vier bis fünf Knoten. Ich bin allein und es ist okay, eher defensiv zu fahren.
Blöd nur, dass die Brückenwärter darauf keine Rücksicht nehmen. Es ist 13 Uhr,
als ich die erste Wende mache. Noch etwa neun Meilen direkt gegenan liegen vor
mir, was etwa 13-14 Meilen gesegelte Strecke bedeutet. Danach nochmal gut zehn
seemeilen bis Stralsund. Am Morgen habe ich etwas über optimism bias
gelesen. Demnach sieht mensch die Zukunft meist eher positiv, und Zeichen, die
auf Besserung deuten, werden stärker gewichtet als solche, die Probleme
ankündigen. Besonders vorteilhaft ist dieser Optimismus nicht. Jedenfalls
nicht für mich, mitten auf dem Bodden, bei der Kopfjonglage mit Optionen und
einem kürzer werdenden Zeitbudget.
Ich versuche also realistisch zu werden. Wind kommt von vorne, wir fahren eher
vier als fünf Knoten, ich bin fit, aber kann mich nicht ewig warmhalten, zumal
die Kälte auf Amwindkurs nochmal stärker reinhaut als auf anderen Kursen. Zwei
Möglichkeiten bieten sich an: zurück nach Wieck fahren und entweder vor dem
Hafen ankern oder in den Hafen gehen. Nach Wieck sind es etwa zehn Seemeilen,
die wir am Wind anliegen können. Zweieinhalb Stunden, bis Sonnenuntergang zu
schaffen. Zweite Option: In den Strelasund einfahren und sehen, wie weit ich
komme. Die erste Anlaufmöglichkeit in dieser Richtung ist Stahlbrode, danach
gibt es noch eine Bucht, die zwar sehr weitläufig ist, bei Südwestwind kann
man dort aber durchaus gut ankern.
Entschieden werden muss das erst nach der nächsten Wende. Also schalte ich
den Autopiloten aus, um selbst eine Weile zu steuern und etwas ruhiger zu
werden. Was soll schon passieren. Im schlimmsten Fall wird es dunkel, der Wind
frischt auf, der Motor springt nicht an, aber was solls? Ich kenn mich doch
aus hier im Revier!
Ich werde etwas ruhiger, nachdem ich mir konkret vorgestellt habe, dass es
dunkel wird und was dann zu tun ist. Lichter einschalten, Navigation häufiger
checken, konzentriert weiterfahren bis zum nächstmöglichen Ziel. Als ich mich
schon freue über den schönen Tag -- denn es ist ein wunderbarer Segeltag, nur
schade, dass er so kurz ist -- und den guten Plan, bis Sonnenuntergang
wenigstens Stahlbrode anzulaufen, wird der Wind deutlich weniger. You gotta
be kidding me. Aber in Luv färbt sich das Wasser schon wieder dunkler und
nach einer Viertelstunde legt sich Aimé wieder auf die Seite, nimmt Fahrt auf
und weiter geht es. Am Osteingang Strelasund muss ich sogar das Großsegel ins
zweite Reff setzen. Wie üblich weht es hier mit einer guten Windstärke
heftiger als auf dem Greifswalder Bodden. Macht aber nichts, bringt uns gut
voran. Nach zwei weiteren kurzen Schlägen biegen wir in den Strelasund ein.
Der Wind hat etwas weiter südwestlich gedreht, sodass wir Stahlbrode gut
anliegen können. Und mit einem Schrick in den Schoten beschleunigt das Boot
auf konstant sechs Knoten. Yes. Die Sonne nähert sich dem Horizont. In der
Planungsphase am früheren Nachmittag war ich unsicher, ob die Sonne nicht
vielleicht erst um halb fünf untergeht. Irgendwie hatte ich das doch in den
Grib-Daten gelesen, 15.25 UTC, als kurz vor halb fünf hiesige Zeit. Aber das
wäre schon sehr spät, gestern war es schließlich um fünf stockfinster. Weil
ich zwar ein Telefonsignal habe, aber keine Daten empfangen kann, schreibe ich
schnell eine Nachricht an A., der sowas immer gleich schnell nachschauen kann.
15.51 MET ist die Sonne weg.
Aber jetzt ist das kein Problem mehr, die Ankunft ist absehbar, mit dem guten
Speed sind wir in einer Stunde da, etwa zwanzig Minuten nach Sonnenuntergang.
Ich stelle mich entspannt ins Cockpit, das Boot fährt und ich schaue den
Wellen zu, den Wolken, halte mein Gesicht in die Sonne. Der Himmel hat
aufgeklart, nur in der Ferne hängen ein paar Schleierwolken, die später, als
die Sonne weg ist, noch lange ihr rotes Licht reflektieren.
Um kurz nach vier passieren wir Stahlbrode. Hier wollte ich immer mal einen
Stop machen, einfach, um den Hafen zu sehen. Aber vielleicht muss das auch
nicht heute sein. Zwei Böller, die irgendwo an Land explodieren, erleichtern
die Entscheidung. Bis zur Ankerbucht sind es nocht etwa zwei Seemeilen. So
dicht unter Land segelt das Boot zwar nicht mehr so schnell, aber in einer
halben Stunde sollten wir das schaffen, und solange, schätze ich, leuchtet uns
die Dämmerung noch mit einem Rest Licht.
Um kurz nach halb fünf fällt der Anker auf drei Metern Tiefe. Leider sehr weit
weg vom Ufer, wie ich später auf dem Kartenplotter nachmesse. Da war ich wohl
etwas zu vorsichtig. Vor drei Jahren sind wir im Strelasund mal auf einen
Stein gefahren, seitdem bin ich, was die Ufer hier angeht, etwas vorbelastet.
Deshalb liegen wir jetzt gut vierhundert Meter vom Ufer weg. Was aber nicht
schlimm ist, flach genug zum guten Ankern ist es trotzdem. Und immerhin sind
wir näher am Ufer als an der Fahrrinne. Abenteuerlich ist es dennoch. Vor
Anker, im Winter, bei winterlichem Südwestwind mit vier bis fünf Beaufort. Und
vor einer Woche etwa saß ich noch im gut geheizten Büro am Schreibtisch, und
lag in meinem warmen Bett in einer warmen Wohnung, saß auf einem blauen Sofa,
lief durch die Straßen mit festem Untergrund. Hier? Nur Wasser, Dunkelheit,
Wind, der in den Wanten pfeift, draußen beim Blick nach oben die Sterne so
hell, dass die Milchstraße gut zu erkennen ist, das Gluckern der Wellen am
Rumpf, wenn das Boot sich dreht, das Rauschen der Heizung und der sirrende Ton
des Windgenerators, der die Verbraucherbatterie laden muss, weil ich das
Ankermanöver ohne Motor gemacht habe. Es geht schon. So geht es schon.
Später dann, nach dem dringend notwendigen Essen, E-Mail vom Hafenamt
Greifswald: Die Brücke in Wieck öffnet wieder ab dem 2.1. Ich soll mich
anmelden, wenn ich durch will. Das ist doch absehbar. Denn das ist noch eine
Erkenntnis (die ich schon wusste, aber, eben, optimism bias): Segeln im
Winter ist unglaublich anstrengend. Ich freu mich auf den Jahreswechsel an
Bord, aber danach gehts zurück in die Box und das Boot wird wirklich
eingewintert.
Im Winter segeln ist saukalt
Anfangs hatte ich große Pläne für diese Tour, zwei Wochen wollte ich unterwegs
sein, bis Gotland segeln und wieder zurück, durch die Nacht, durch Eis und
Sturm, und zwischendurch immer mal davon schreiben und am Ende einen tollen
Erfahrungsbericht zum Wintersegeln zusammenstellen. Die lange Fahrt hatte sich
schon erledigt, bevor es losging, aber das ist normal: Bis zum Ablegen gibt es
immer mehrere Downsizings. Rund Rügen wäre jetzt toll, muss aber nicht.
Ich bin unterwegs, das ist alles. Und eigentlich sind alle wichtigen Daten für
den Erfahrungsbericht schon gesammelt:
Im Winter
- gibt es Stürme mit Orkanböen, die selbst im Hafen schon sehr
unangenehm sind
- haben die Häfen kein Frischwasser und keinen Strom (ausgenommen Wieck: da gabs
Strom)
- friert Wasser zu Eis, auch an Deck
- ist segeln vor allem eins: saukalt
Dabei war es von den Temperaturen her und auch sonst ziemlich mild. Fünf Grad
über Null, bedeckt, schwacher Wind aus Nordwest. Aufstehen war trotzdem, wie
jeden Morgen, schwer und hat etwa eine Stunde gedauert. Als die Sonne um halb
neun über den Horizont kam, schob ich erst die Beine und dann den Rest aus dem
Bett nach draußen. Mit Landstromglück den Wasserkocher in Betrieb gesetzt,
Kaffee in wenigen Minuten, dann Heizlüfter an, fast komfortabel. Zum Frühstück
kein Müsli wie geplant, sondern zwei Stück Marzipanstollen, weil die Fahrt nur
quer übern Bodden, fünfzehn Seemeilen, kein Problem.
Nach dem Frühstück alles seefest verstauen, wer weiß was da kommt. Angesagt
ist schwacher Wind aus Nordwest, 15 Knoten in den Böen. Trotzdem habe ich mir
angewöhnt, immer alles so zu verstauen, dass es auch dreißig Knoten in Böen
und hohe Wellen geben kann. Nicht ganz sturmfest, aber bereit für Starkwind.
Die Batterien sind gut aufgeladen, der Motor sollte starten. Ich bin gespannt.
Erstmal gehe ich an Deck, um die Segelpersenning einzupacken und das Vorsegel
anzuschlagen. Und traue meinen Augen nicht. Das Vorschiff ist komplett
überfroren, nur ganz an der Seite, wo schon ein wenig Sonne hinkommt,
verlaufen sich ein paar Wassertropfen. Damn. Daran hatte ich nicht gedacht.
Aber klar. Bodenfrost = Deckfrost. Weil das Deck an den Seiten geneigt ist,
kann ich nur dort meinen Fuß hinsetzen, wo er seitlich von einem Beschlag oder
vom Süll gehalten wird. Ich balanciere vorsichtig nach vorne, befestige den
Karabiner fürs Vorsegel. Ziehe die Schoten ein, die noch unter Deck gelagert
waren. Packe erstmal die Großsegelpersenning weg, die noch gefrostet ist. Hole
dann das Vorsegel an Deck und schlage es an, bringe die abgespannten Fallen
und die Dirk an den Mast. Fertig. Vier Monate nach der letzten Segelfahrt ist
das Boot wieder fahrbereit. Das denke ich glücklicherweise nicht in der
Situation selbst, bin viel zu aufgeregt. Das fällt mir erst jetzt beim
Aufschreiben *after the fact* ein. Die Reise nach Norwegen hat im Vergleich zu
dieser Bodden-Winter-Tour ja schier epische Ausmaße.
Ich starte den Motor. Der Anlasser muss länger drehen als vom Sommer gewohnt,
aber der Motor springt an. Ich bin erleichtert. Hoffe dabei, dass diese lange
Startphase nicht die Batterie wieder ausgelaugt hat und das nachher unterwegs
Probleme macht. Dann steige ich an Land, mache alle Leinen los, schiebe das
Boot ein wenig vom Steg weg und steige dabei mit ein. Die Sonne hat inzwischen
den Frost getaut, ich kann mich wieder gut auf Deck bewegen und packe zügig
Fender und Leinen weg, nehme Kurs auf die Hafenausfahrt und lege den
Vorwärtsgang ein.
Der Greifswalder Bodden zeigt sich in abgetönten Pastellfarben. Der Himmel ist
bedeckt, das Licht mehr ein Zwielicht, der Ausleger der Hafenmole, die
aufgeschütteten Steine an Steuerbord, die Fahrwassertonnen wirken wie
weichgezeichnet, ohne klare Konturen. Ganz leicht
kräuselt sich die Wasseroberfläche, der Wind weht nur schwach. Ich drehe den
Bug nach Luv, stabilisiere den Kurs fast gegen den Wind und setze die Segel.
Das Boot neigt sich leicht zur Seite, als ich abfalle und die Schoten anhole.
Wir nehmen Fahrt auf, ich stoppe den Motor, Wasser gluckert am Rumpf. Ein herrlicher Moment.
Ich steuere von Hand. Will den Autopilot noch nicht einschalten. Wir lassen
die Ecke bei Ludwigsburg an Steuerbord, segeln parallel zur Fahrrinne. Auf
Höhe der beiden alten Plattformen kommt uns ein Schiff der Bundespolizei
entgegen. Ich denke darüber nach, dass man dort mit dem Fernglas mir
wahrscheinlich direkt ins Gesicht schaut. Mache ein grimmiges Gesicht. Und
bin etwas verwirrt über diese Mischung aus Angst vor Überwachung und
narzisstischem Geltungsdrang. Hoffentlich haben sie mich gesehen! Und gedacht:
Mensch, das ist ja mutig, toll, abenteuerlich, um die Zeit mit dem Segelboot
rauszufahren. Das ist sicher ein sehr erfahrener Skipper etc. pp.
(Wahrscheinlicher ist: Meene Jüte, der kann 'n Kopp o' ni voll krien,
wa?)
Der Moment geht vorbei, ich schaue durch die Gegend, suche nach der Ruhe, die
ich doch hier draußen finden wollte. Bin aber noch aufgeregt. Was, wenn der
Motor streikt? Wenn der Wind auffrischt? Wenn es anfängt, zu schneien? Für den
Fall, dass der Motor streikt, muss ich eben unter Segeln irgendwo rein. Nach
Wieck oder nach Gager, je nachdem, was in dem Moment näher ist. Denn wir
segeln langsam. Machen im Schnitt nur drei Knoten. Weil die Tage sehr kurz
sind, ich aber ungern im Dunkeln ankommen will, heißt das, dass wir die drei
Knoten nicht unterschreiten sollten. Falls doch, dann müssen wir motoren. Und
wenn dann der Motor nicht anspringt - Plan B.
Zwischendurch lockern sich die Wolken direkt über mir etwas auf und ich kann
den blauen Himmel sehen. Die Wolkendecke liegt sehr tief, und über Land sinkt
sie noch tiefer, sodass die Küste zum Teil im wolkigen Dunst verschwindet. Von
Backbord schiebt sich langsam ein Frachter an uns vorbei. Laut AIS ist er an
Silvester in Hull, England. Er passiert mit großem Abstand.
Kurz vor der Untiefe Groß-Stubber schralt der Wind. Ich falle ab und fluche,
ein wenig fassungslos. You gotta be kidding me. Aber der Wetterbericht! Zehn
Minuten später dreht der Wind wieder zurück, wir sind wieder en route.
Die Untiefe lassen wir gut an Steuerbord. Der Wind zieht wieder etwas an und
beschleunigt uns auf vier Knoten. Den Autopiloten habe ich schon vor einer
Weile eingeschaltet. Am Navigationstisch ertappe ich mich dabei, dass ich
Dinge überlege, die nicht übelegt werden müssen, jedenfalls nicht jetzt, um
noch ein wenig unten zu bleiben, anstatt oben nach den Segeln zu sehen. Außer
den Berufsfahrern begegnen mir keine anderen Boote, Kollisionsgefahr ist also
eher gering. Fischernetze sehe ich auch keine. Man gönnt den Fischen auch ein
paar Tage Weihnachtsferien. Deshalb kann ich mir ein paar Minuten mehr unter
Deck eigentlich auch leisten. Dass der Greifswalder Bodden so leer ist habe
ich einfach noch nicht erlebt, deshalb ist mein Achtsamkeitslevel unangemessen
erhöht.
Kurz hinter der Ansteuerungstonne Zicker schläft der Wind ein. Wir treiben
mehr als wir fahren. Aber ich will den Motor noch nicht starten. Einmal wegen
der Sorge, dass er nicht anspringt (eine kontraintuitive Begründung), vor
allem aber, weil jetzt, in der Stille, von überall her die See- und
Schwimmvögel zu hören sind. Um uns herum, in etwas Entfernung, sind mehrere
Gruppen und Schwärme, und alle rufen und singen sie in einem fort. Die Muster
sind recht einfach, jedenfalls erkennbar. Immer wieder aber werden einzelne
Töne variiert, oder eine arme Vogelkehle trifft diesen hohen Abschlusslaut
nicht richtig. Irre ist das Sounderlebnis, completely 3D.
Schließlich starte ich doch den Motor. Er startet ohne Probleme, deutlich
schneller als noch am Morgen. Vielleicht weil es jetzt am Tag etwas wärmer
ist? Ich berge die Segel und nehme Kurs auf das Fahrwasser in Richtung Gager.
Ich kenne die Strecke und muss nur einmal in die Karte schauen, um mich zu
vergewissern. Im Moment ist auch etwas mehr Wasser im Bodden, der
Wasserspiegel ist etwas zwanzig Zentimeter über Normalnull, sodass die heikle
Stelle mit 1,8 Metern für uns sogar befahrbar wäre.
Bis zum Hafen mache ich mir Gedanken, wie ich das Boot am günstigsten
platziere, damit ich morgen beim erwarteten Südwestwind einfach ablegen kann.
Entweder längsseits an die Mole, oder längsseits an einen der Schwimmstege,
auf die Ostseite, und rückwärts anfahren, damit ich morgen vorwärts losfahren
kann. Weil es im Hafen windstill ist, wähle ich die zweite Option. Die
Schwimmstege sind aus Holz, und bei der Mole hätte ich Probleme mit den
Fendern. Also rückwärts angefahren, dann aufgestoppt, ein kleines Stück
vorwärts, aufstoppen, das Auge der Leine vom Boot aus über den Poller
geworfen, festgemacht, Vorwärtsgang, Boot liegt stabil. Leinen fest.
Alleine ist das alles wirklich mehr Arbeit als zu zweit, denke ich beim
Einpacken der Segel. Muss ich halt mehr Zeit einplanen. Downsizing.
Und jetzt? Jetzt läuft die Heizung. Sie hat etwa eineinhalb Stunden gebraucht,
um es hier angenehm warm zu machen. Angenehm warm zumindest mit langen
Unterhosen, zwei Pullovern und dicken Wollsocken an.
Wintersegeln (vier Monate später)
Heute nachmittag hat der Sturm endlich nachgelassen. Jetzt ist das Wasser ruhig, Aimé schaukelt ganz leicht in den Spuren einer Dünung, die hier im Hafen zwischen den Molen reflektiert werden. Die Nacht war anstrengend, obwohl wir im Hafen liegen. Die Sturmböen drückten das Boot weit über, ließen es zum Teil heftig in die Leinen einrucken. Manchmal, wenn die Böen im richtigen Abstand kamen, schaukelte sich das Boot richtig auf. Ich lag achtern in der Koje, konnte kaum schlafen, wachte oft schreckhaft auf, atmete unruhig. Gegen halb fünf Uhr morgens dann ein lauter Schlag, aber nicht von draußen, aus dem Salon, irgendwas ist runtergefallen. Ich gehe nach vorne und schau nach. Das Geschirr, das noch neben der Spüle stand, ist zusammen mit dem Spülmittel mit Karacho gegen die Wand gerutscht. Ich verstaue alles, auch die Sachen, die noch auf dem Tisch stehen, schön seefest, damit bei der Krängung nicht doch noch irgendwas runterfällt und kaputt geht. Im Hafen. Was habich mir nur vorgestellt als ich gesagt habe: Wintersegeln. Aber der Reihe nach.
Vor vier Monaten sind wir aus Norwegen wieder zuhause angekommen. Seitdem gab es kaum Zeit, die Reise fertig aufzuschreiben. Es fehlen noch die Geschichten von unserem letzten Stop vor der südnorwegischen Küste in einem Archipel von seltsamen, wie traumhaft geformten Steinen und Felsen, von unserer epischen Nonstopfahrt übers Skagerrak, durchs Kattegat und bis in den Sund, von den Delphinen, die uns begleiteten, und schließlich auch von unserer Rückkehr in heimische Gewässer. Stay tuned. Erstmal aber: Wintersegeln.
Seit unserer Rückkehr war ich nur einmal noch kurz beim Boot, irgendwann im September, um alles für eine längere Pause zu sichern. Danach consumed durch Angelegenheiten an Land, an Orten, die mehr als fünfhundert Kilometer von jeder Küste entfernt sind. Das ganz konkrete Meer, das, auf dem echte Boote segeln, gerät dort gerne in Vergessenheit. Vorstellungen und Träume bleiben aber. Deshalb sitze ich inzwischen wieder hier an Bord und suche nach einem Einstieg.
Wintersegeln. Wollte ich immer schon machen. Und wann, wenn nicht nach einer Reise zum Polarkreis? Dortselbst war es zwar warm, aber unterwegs war es oft sehr kalt. Und ein wenig bin ichs auch von früheren Jahren gewöhnt, weil ich immer mal wieder im Winter einige Nächte an Bord war. Und das Boot seit drei Jahren den Winter über im Wasser bleibt. Dieses Jahr wollte ich es also wahrmachen. Weihnachten und Silverster unterwegs. Also blieb nach der Sommerreise das Rigg gespannt, Fallen und Reffleinen blieben eingeschoren, nur das Großsegel kam unter Deck und die Persenning drauf. Ach ja, und die Sprayhood musste weg, weil die Montagestellen rosteten. Die Neukonservierung schaffte ich im September, neu montieren konnte ich noch nicht. Also keine Sprayhood. Aber wir sind viele Jahre ohne gesegelt, das Gefühl ist schon bekannt.
Schon für die Vorbereitung der Reise hatte ich mir einiges vorgenommen. Ich wollte fit sein unterwegs, um Kälte und Anstrengung gut auszuhalten, und dafür laufen und schwimmen gehen. Und ich wollte mir genau überlegen, was Kälte bedeutet und was ich dafür brauche. Beides rechtzeitig. Natürlich kam es wie so oft. Entkräftet durch zuviel Arbeit, überhaupt nicht fit wegen zuwenig Sport und ohne die ganze Sache gut durchdacht zu haben kam der 23.12., der Tag, an dem das Boot durch die Brücke musste, die danach für zwei Wochen zu bleibt. Zusammen mit L. fuhr ich früh morgens nach Greifswald. Auf dem Weg vom Bahnhof zum Boot kauften wir noch Wasser und Fressalien ein für die kommenden Tage. Es war toll, das Boot nach so langer Zeit überhaupt mal wieder zu sehen. Lag da, als sei nichts gewesen, mit den Leinen alles okay, mit der Persenning alles okay. Das Deck mit alten Blättern und Vogelscheiße verdreckt, wie üblich, ansonsten aber war alles so, wie wir es verlassen hatten. Wir bauten die Persenning ab, schrubbten das Deck ordentlich. Peilten die Brücke um eins an, die vorletzte Öffnung des Jahres.
Um zwölf öffnete ich die Tür zum Motorraum. Sichtprüfung. Mein Blick blieb am Spannungsmesser für die Starterbatterie hängen. Die Nadel stand bei vier Volt. Damn. Adrenalin. Tausend Gedanken. Scheiß Billigbatterie, was mach ich jetzt Silvester?, kriegen wir das noch hin?, wie hab ich das damals gemacht als ich den Motor mit der Verbraucherbatterie starten wollte?, hat das damals überhaupt funktioniert? usw. Bäm. Ohne Motor geht nix. Keine Brücke, kein Segeln, kein Winter, nix.
Die Brücke um eins schaffen wir nicht. Aber es gibt ja noch eine um drei. Wir legen Landstrom, schalten das Ladegerät ein. Die Batterie wird nicht erkannt. Umschalten des Ladegeräts auf Konstantspannung hilft. Das Ladegerät dient dann einfach als Netzgerät und misst nicht gleichzeitig noch den Ladezustand der Batterie, es wird einfach Strom geliefert. Auf diese Weise laden wir eine dreiviertel Stunde. Die Starterbatterie hat nur knapp fünfzig Ampèrestunden (ja, ist zu klein, ich weiß), sollte also in zwei Stunden ausreichend voll sein, um den Motor zu starten. Unter normalen Umständen jedenfalls. Nach einer Stunde, es ist bald zwei Uhr, schalten wir das Ladegerät ab. Der Spannungsmesser zeigt elf Volt. Ein Fortschritt. Reicht aber nicht zum starten. Ich schalte das Ladegerät wieder in Ladebetrieb, diesmal wird die Batterie erkannt. Zeitlich wird das wahrscheinlich nicht reichen. Welche Lösungen gibt es noch?
Von Hand starten, mit der Kurbel, wollte ich immer schon mal ausprobieren mit diesem Motor. Hab ich bisher nicht gemacht, warum auch immer. Könnte ja durchaus mal nützlich sein. Heute zum Beispiel. Die Kurbel liegt seit Jahren immer griffbereit. Ich öffne die Ventilhebel, setze die Kurbel an, bringe das Rad auf Schwung. Aber bevor L. die Ventilhebel schließen kann, springen die ersten beiden von selbst zurück und die Kurbel stoppt. Soviel Kraft hab ich nicht. Keine Ahnung, warum das so passiert. Leider auch keine Zeit, um das irgendwo nachzulesen. Also nächste Option.
Wir lassen das Ladegerät laufen, während der Startknopf betätigt wird, in der Hoffnung, dass der zusätzliche Strom reicht, um den Motor zu starten. Eine schlechte Idee. Das Ladegerät schaltet sich sofort selbst aus, die Batterie stürzt kurzzeitig auf fünf Volt, Motor dreht nur sehr müde. Es ist viertel nach zwei. Wenn wir um halb drei nicht loskommen, ist die Nummer gelaufen. Nächste Option.
Ich baue das Ladekabel, das vom Ladegerät zur Starterbatterie läuft, so um, dass die Verbraucherbatterie den Anlasser bedient. Beim Basteln merke ich, dass ich wohl, als ich das vor vielen Jahren gebaut habe, schon bei der Installation an diese Notlösung gedacht haben muss. Die Verkabelung mit den Unterbrechungsschaltern und den verschiedenen Stormquellen ist so gemacht, dass es reicht, das Ladekabel vom Ladegerät einfach an die Verbraucherbatterie anzuschließen und mit dem Batterieschalter die Starterbatterie vom ganzen Kreis zu trennen. Weil das beim letzten Mal, als ich das versucht habe, nicht so richtig gut lief, so zumindest meine dunkle Erinnerung, öffne ich die Ventilhebel, dann startet L. den Motor, der Anlasser dreht, die Ventilhebel springen von alleine zurück, es ruckelt und zuckt ein wenig, der Auspuff hustet, dann springt der Motor an und - läuft. Unglaublich. Es ist fünf vor halb drei. Keine Zeit, um zu überlegen, ob es vielleicht besser wäre, unter diesen Umständen nicht raus zu fahren, weil diese Notlösung alles andere als zuverlässig ist. Wir packen das Landstromkabel weg, werfen die Leinen los, fahren aus der Box und nehmen Kurs Richtung Brücke. Wir sind prima in der Zeit.
Während L. oben den Fluss entlang steuert, schließe ich unten die Starterbatterie wieder an den Ladekreislauf an, damit sie jetzt, unter Motor, weiter geladen wird. Pünktlich um zehn vor drei sind wir an der Brücke. Die Brückenwärter hatten am Telefon - ich wollte sicher gehen, dass die Brücke auch wirklich aufmacht um drei - in einer Mischung aus drohend und bittend gesagt, dass wir auf jeden Fall pünktlich sein sollen. Ich winke ihnen kurz zu und wünsche mit ehrlichen Gedanken eine frohe Festzeit.
Und dann sind wir plötzlich durch, fahren durch den Hafen von Wieck, überlegen, ob das Boot besser längsseits vor dem Hafenamt oder in einer Box liegt. Längsseits ist besser. So komme ich bei den zu erwartenden westlichen Winden alleine besser los.
Am Abend gehts zurück nach Berlin. Erst am 25. bin ich wieder an Bord, diesmal allein. Eigentlich hatte ich geplant, am 26. früh aufzubrechen nach Rügen, um dort das angekündigte Sturmtief im Hafen abzuwarten. Aber das Tief zieht schneller als gedacht, und auf dem Greifswalder Bodden weht es mit sechs Beaufort, in Böen mehr. Kein gutes Setting, um das erste Mal seit langer Zeit alleine loszufahren. Natürlich schwanke ich bis zuletzt und überlege, ob ichs nicht wagen soll. Aber am Ende überwiegen Furcht und Sicherheitsüberlegungen. Es ist die richtige Entscheidung.
Inzwischen hat der Wind deutlich abgeflaut. Ich freue mich auf eine ruhige Nacht. Morgen geht es quer über den Greifswalder Bodden. Ein kurzes Stück, genau richtig, um auszuprobieren, wie es sich anfühlt, bei Temperaturen etwas über dem Gefrierpunkt zu segeln. Ich bin aufgeregt. Wintersegeln. Stay tuned.
Last Chance to Party
In Kopervik sprachen uns an einem Abend noch zwei nicht mehr ganz nüchterne Typen an, die mit ihrem Boot, einer schnittigen kleinen Segelyacht, gegenüber am Steg lagen. Sie fragten nach woher, wohin und wir fragten das Gleiche. Für die Regatta seien sie hier, die am nächsten Tag starten solle, erst mit einem Lauf auf dem Sund vor Kopervik, am Nachmittag dann mit einem Streckenrennen von Kopervik nach Haugesund. Dort sei ein großes internationales Jazzfestival mit vielen guten Konzerten, noch das ganze Wochenende (es war Freitag). Wir sollten unbedingt nochmal zurück fahren, um das Festival mitzukriegen. Für mich ein absurder Gedanke, nochmal zurück zu fahren, waren wir doch in den vergangenen Tagen so gut unterwegs gewesen, fokussiert auf ein zügiges Nachhausekommen. Aber dieses Bestehen darauf, dass wir dieses Festival auf keinen Fall verpassen dürfen, machte zumindest klar, dass es ihm ganz wichtig war.
Die beiden waren am Tag von Stavanger nach Kopervik gesegelt. Bald kam die Frage auf, ob wir in Stavanger vorbei gekommen seien, und als ich das verneinte, brach der Lokalpatriotismus sich in einer fast wüsten Beschimpfung Bahn: What, you didn't go to Stavanger? You are a fucking moron!
Was kumpelhaft gemeint war, empfand ich dann aber doch als ein wenig zu grob. Konnte aber auch sehen, dass er selbst von seiner Wortwahl etwas überrascht war. Und verstand auch, dass dieser inszenierte outcry eigentlich nur eine gesteigerte Form des üblichen Lobes verschiedener Orte war, das hier in vielen Gesprächen früher oder später stattfindet. Ab und an wurde uns dann erzählt, wo wir unbedingt hinfahren müssten wegen diesem und jenem unglaublich großartigen Ding.
An Stavanger vorbei zu fahren ist aber natürlich auch idiotisch. Insofern konnte ich nur beipflichten. Aber dass wir vorbei gefahren waren (und auf der Rückfahrt fuhren wir dann wieder vorbei, fucking morons) hatte ja seine Gründe, aber dem betrunkenen, kumpeligen Regattasegler diese Gründe darzulegen war in der Situation echt nicht angebracht.
Das Boot, mit dem sie da waren, war aber cool. Und ihre Story dazu war auch cool, und auch ein bisschen traurig. X-Men hieß das Boot, und vorne am Bug, vor dem Schriftzug, hatten sie sich einen Custom-Aufkleber gebastelt, und das sah grafisch dann so aus, als säße Wolverine vorne im Bug und würde gerade seinen Supermetallkrallen durch den Rumpf reißen. Mit dem Namen wollten sie aber auch ausdrücken, dass sie beide zwei geschiedene Männer sind. X-Men eben. Ha, ha. Als Identitätsentwurf fand ich das dann aber auch ungewollt subversiv, diese Mischung aus Ex-Mann und Übermann.
Später kam noch ein zweites Boot an, diesmal mit einer Frauencrew, die sich neben die X-Men legte, man kannte sich wohl auch. Lea kam noch mit einer der beiden ins Gespräch, auch über Haugesund. Das Jazzfestival sei wirklich toll, und es sei eben schon das Ende der Saison, sonst sei halt nirgends mehr was los. It's your last chance to party.
Fast Rückseitenwetter
Nach einer letzten unbequemen Nacht, in der der Wind durch die Wanten heulte und das Boot im stürmischen Nordwind an den Leinen tanzte, wachte ich morgens auf -- weil der Wind noch einmal zugenommen hatte und Regen auf die Luke prasselte. So sieht eigentlich keine Rückseite aus. Wenn ein Tief durchgezogen ist, findet sich auf der Rückseite des Tiefs meist blauer Himmel und starker, aber nicht mehr stürmischer Wind aus Nordwest bis Nord, je nachdem auf welcher Höhe relativ zum Zentrum des Tiefs man sich befindet. Der Regen zog aber bald ab, nur eine Schauerbö (wobei die Schauerböen hier deutlich mächtiger und ausgedehnter sein können als auf der Ostsee), und am späten Vormittag flaute der Wind endlich ab auf fünf bis sechs Beaufort. Liten Kuling. Nach dem Sturm erschien uns das nicht mehr als Obergrenze, bei der wir noch segeln wollen, sondern als guter Wind, zudem von hinten. Jedenfalls bis wir aus dem Hafen gefahren waren und die aufgewühlte See mit hohen, von Gischt bekränzten Wellen sichtbar wurde.
Erstmal aber fuhren wir an die Tankstelle. Denn das Anlegen unter Segeln drei oder vier Tage zuvor war weniger selbstgewählt als von einem Ausfall des Motors erzwungen gewesen. Schon als der Motor kurz nach dem Setzen des Großsegels, dreißig, vierzig Meilen vor Fedje, einfach so aufhörte zu laufen, und dann auch nicht mehr richtig anspringen wollte, hatte ich kurz über Ursachen nachgedacht. Allerdings nur kurz, weil dann recht bald der Wind auffrischte und unser Landfall unter Segeln geplant und vorbereitet werden musste, während wir mit hohen, seitlich anlaufenden Wellen zu tun hatten, außerdem mit einem permanenten Monitoring der Windrichtung und -stärke, von der die Möglichkeiten des Einlaufens und Anlegens unter Segeln in Fedje ja maßgeblich abhingen.
Die Problemanalyse musste also warten.
Kurz nach unserer Ankunft in Fedje hatte sich unser Missgeschick mit dem Motor und unsere erzwungene kleine seglerische Meisterleistung -- Anlegen unter Segeln bei fünf bis sechs Beaufort -- schon herumgesprochen. Es war Samstag Nachmittag, deshalb gingen wir den langen Weg um die Bucht herum ins Dorfzentrum, um noch etwas einzukaufen. Auf dem Rückweg begegnete uns ein Mann auf dem Fahrrad, der uns ansprach. Der Segler, der am Morgen mit den Leinen geholfen hatte, habe ihm erzählt, dass wir ein Problem mit dem Motor hätten und deshalb unter Segeln reingekommen seien. Er könne uns gerne mit dem Dinghy rausschleppen, wenn wir weiter wollten.
Erst war ich ein wenig überrascht. Wir waren doch gerade erst angekommen und wollten gar nicht wieder raus. Freundlich lehnten wir sein Angebot ab und bedankten uns, und unser Plan, das Sturmtief in Fedje abzuwettern, leuchtete ihm auch ein. Später am Tag verstand ich dann sein Angebot besser. Nach unserer Ankunft hatte sich das Wetter wieder gebessert, es herrschte bester Segelwind, vier bis fünf Beaufort aus Nord, dazu Sonne, am Himmel nur kleine Kumuluswolken, die eine (noch) stabile Luftschichtung anzeigten. Erst am Abend zogen dann die ersten hohen Cirruswolken, Vorboten des Tiefs, am Himmel auf. Und es wäre ganz vernünftig gewesen, mit einem Motorproblem, das professionelle Hilfe erfordert, in eine größere Stadt, also nach Bergen, zu fahren. Zeitlich hätte das dicke gereicht. Ganz abgesehen davon dass der Wind weiter im Inland bei weitem nicht so stark wehen würde wie draußen auf der exponierten Insel Fedje in der offenen norwegischen See.
Im Lauf der drei Tage lernten wir den netten Nachbarn bei ein paar Pläuschen auch noch etwas kennen. Sein Boot, oder eigentlich: Schiff lag dreißig Meter entfernt an einem Schwimmsteg, ein altes Fischerboot mit einem hölzernen Rumpf, Eiche, sauber lackiert, und einem Aufbau aus Aluminium, wo er mit seinem Sohn gerade dabei war, die alten Laderäume und Arbeitsdecks zu mehreren Appartments auszubauen. Wände waren allerdings noch keine gezogen und alles war ziemlich in der Hauptphase. Überall standen oder lagen Werkzeuge, in der Mitte des Arbeitsdecks hatten sie eine große Werkbank aufgestellt. Die Decke war schon verlegt, darunter auch Kabel und andere Leitungen, wie er uns bei einem Besuch erklärte.
Schon beim ersten Besuch -- er kam bei uns vorbei, nachdem er selbst aus dem Dorf zurückgekehrt war -- erzählte er uns ein wenig von sich und seinem Leben. Vor der Geburt seines Sohnes (der in dem Moment neben ihm stand) war er mit seiner Frau auf die Insel Fedje gezogen und hatte dort das Fabrikgebäude gekauft, wo jetzt der Gästesteg ist, an dem Aimé auch lag. Dort hatte er die Zinnfigurenfabrik eingerichtet, die schon sein Großvater gegründet hatte und die bis dahin an einem anderen Ort gewesen war. Das Gebäude ist groß und das Unternehmen muss wirklich eine major operation mit vielen Mitarbeitern gewesen sein. Vor einigen Jahren aber hatte einer der größten Kunden der Fabrik entschieden, die Produktion seiner Figuren nach Thailand zu verlagern. Ein Konkurs konnte durch Entlassungen abgewendet werden, aber richtig erholen wollte sich das Geschäft nicht. Vor ein paar Jahren wurde das Fabrikgebäude dann verkauft, die Familie zog zurück aufs Festland nach Bergen. Was er jetzt genau macht, abgesehen von der Bootsrenovierung, wurde nicht klar. Der Mensch sprudelt vor Ideen und Einfällen, und das Gespräch und seine Erzählung verlief herrlich assoziativ, sodass ich jetzt keine kohärente Lebensgeschichte erinnere, bei der eines aus dem andern hervorgeht und die späteren Lebensphasen und -handlungen in den früheren ihre Ursachen finden, sondern eben: viele verschiedene Tätigkeiten, die sich zum Teil überschneiden, parallel laufen, abhängig sind voneinander oder unabhängig. Das Bauen und Arbeiten jedenfalls war ein wichtiger Baustein, egal ob in der Fabrik oder an einem seiner Boote. Neben dem Fischkutter besitzt die Familie noch eine große, alte, hölzerne Segelyacht und diverse Dinghies. Die Segelyacht liegt auch in Fedje, ein wunderschönes Schiff, das wir bei einem Spaziergang aus der Entfernung sahen. Bestimmt gute zwanzig Meter lang, elegante Linien, die Yacht eines edlen Herrn mit Geschmack, gebaut von einer Werft, die ihr Handwerk verstand.
Harald -- seinen richtigen Namen kenne ich nicht, irgendwie scheint man das hier nicht so zu machen mit der namentlichen Vorstellung, das ging mir auch schon bei anderen Begegnungen so -- bot uns auch an, den Kontakt zu einem Schiffsmaschinisten herzustellen, der auf der Insel lebt, falls unser Problem für uns selbst nicht lösbar sein sollte. Am nächsten Tag, der Wind blies erst mit sechs bis sieben Beaufort aus Süd und das Boot lag noch vergleichsweise ruhig an seinem Molenplatz, machte ich mich schließlich an den Motor. Zwei Möglichkeiten für die Ursache kamen nach meinem Wissen von der Technik und dem Zustand der Teile in Frage. Abgesehen also von allen tausend möglichen anderen Ursachen, die von Teilen herrühren könnten, die ich gar nicht kenne. Der Motor war nämlich bisher immer ein Teil vom Boot, das ich eher gemieden habe. Zumindest im Vergleich mit all den anderen Teilen (und das betrifft fast das gesamte Boot), die ich auf die eine oder andere Weise entweder selbst gebaut oder schonmal zerlegt und wieder zusammengebaut habe. Einen Ölwechsel habe ich mal gemacht, inklusive Ölfilterwechsel, und den letzten Ölwechsel leider viel zu spät, entsprechend einem doppelten Wartunsintervall zweihundert Betriebsstunden nach dem vorherigen Ölwechsel. Ganz zu Anfang habe ich den Dieselfilter gegen ein neues Modell getauscht und bei der Gelegenheit die Kraftstoffleitungen erneuert. Allerdings nicht daran gedacht, einen Absperrhahn einzubauen, weshalb der Dieselfilter nur bei niedrigem Stand im Tank gewechselt werden kann. Besonders fatal, wenn der Filter bei etwas höherem Tankstand blockiert. Jedes Jahr lasse ich das Wasser aus dem Kühlkreislauf, öffne das Gehäuse der Wasserpumpe und schmiere die zugehörigen Teile. Den Luftfilter habe ich auch zu Anfang gewechselt, also vor etwa zehn Jahren. Außerdem musste ich einen neuen Kühlwasserfilter einbauen, kurz vor der Reise, und bei der Gelegenheit hab ich auch die Kühlwasserleitungen bis zur Pumpe ausgetauscht, weil die viel zu lang waren und einen sehr großen Durchmesser hatten. Dafür hab ich Waschmaschinenschlauch verwendet, und auch da frage ich mich, ob das eine gute Idee war. Ist Waschmaschinenschlauch seewasserbeständig und ölbeständig?
Neben den beiden möglichen logischen Ursachen hatte ich also auch meine eigenen Basteleien als mögliche Ursache in irgendeiner verqueren Form im Kopf. Wahrscheinlicher aber als Kühlwasser- oder Ölsachen war beim beobachteten Absterben des Motors ein Problem bei der Dieselzufuhr. Die musste unterwegs irgendwie unterbrochen worden sein. Und dafür gab es zwei mögliche Gründe: Entweder hatte der Motor bei den hohen Wellen Luft gezogen. Das wäre das einfachste Problem, dann müssten einfach nur die Leitungen entlüftet werden. Oder aber die Schaukelei hatte jetzt endlich all den Bioschlamm so gut aufgewirbelt, dass der Filter sich zugesetzt hatte. Dann wäre neben dem Austausch der Filter auch eine gründliche Säuberung von Tank und Leitungen angefallen.
Laut meinen Berechnungen befanden sich noch fünfzig Liter im Tank. Also etwa ein Viertel voll. Hatte ich mich wirklich so verrechnet und der Sprit war doch alle? Schließlich hatten wir die Heizung häufiger als sonst angemacht (Normaltemperatur 10-15 Grad, am Tag!), und auch der Motor war meistens mit mehr als den sonst üblichen 2000 Umdrehungen gelaufen, um gegen Strömung, Wind und Wellen anzukommen, in schmalen Durchfahrten oder wenn wir auf See in die Flaute kamen. Aber fünfzig Liter? Und das, obwohl sonst meine Berechnungen immer einen höheren Verbrauch angenommen hatten als dann tatsächlich anfiel? Aufklärung brachte eine geometrische Zeichnung. Also erstmal Spritstand im Tank messen. Dafür haben wir leider kein elektronisches Instrument, sondern müssen jedes Mal die Inspektionsklappe aufschrauben (zwanzig kleine Schrauben) und dann ein kleines Stück Messlatte in den Tank hinunter lassen. Aber gut. Machte ich, und in der Tat: ~50 Liter, give or take. Also Bioschlamm? Ich baute den Feinfilter ab, fand dort aber rein gar nichts, nicht mal Spuren. Und wenn Bioschlamm die Ursache wäre, müssten doch dort wenigstens Spuren sichtbar sein? Ätzende Arbeit. Diesel auf den Händen. Diesel in der Bilge. Dieselgeruch im Boot. Und gleichzeitig toll. Endlich bekam der Motor die Aufmerksamkeit, die er schon längst hätte bekommen müssen. Weil nicht nur dass er einfach ausgegangen war, seit mehreren Tagen schon leckte am Ventil zur Entwässerung das Kühlwasser, tropfenweise nur, also nicht bedrohlich, aber eben doch. Am Motorkörper kristallisierte das Salz aus, und jeden Morgen vor Abfahrt lenzte ich einen Schwamm mit Wasser aus der Motorbilge.
Aufschluss brachte eine geometrische Zeichnung. Ich wollte wissen, wie sehr das Boot mit fünfzig Litern im Tank krängen muss, damit der Kraftstoffauslass am Tank in der Luft hängt. Ergebnis: 18 Grad. Da war ich ziemlich erstaunt. Weil: Zwanzig Grad krängen wir bei leichtem Wind um überhaupt loszufahren. Okay, nicht ganz so krass. Aber bei vier bis fünf Beaufort krängen wir locker zwanzig bis dreißig Grad. Und wenn das Boot von 1,5 bis zwei Meter hohen Wellen von der Seite geschubst wird, dann legt es sich locker soweit auf die Seite, gefühlt noch deutlich mehr. Und in der Tat hatte ja schon eine gute halbe Stunde vor dem Segelwechsel der Wind aufgefrischt, waren die Wellen höher und stärker geworden. Und hatten wir den richtigen Zeitpunkt zum Segelsetzen, weil Nacht und Dunkelheit und erschöpft, verpasst. Nicht schlimm, dachte ich da in der Nacht, ist kein Problem, ich muss Lea nicht früher wecken als im Wachplan festgelegt, und wir machen unsere fünf Knoten Fahrt auch jetzt. Situation ist stabil. Fehleinschätzung.
Beim Entlüften der Leitung kam dann auch ordentlich Luft. Die hatte der Motor gezogen. Die halbe Stunde im auffrischenden Wind hatte er noch die Reste aus der Leitung gezogen, bis dann eben irgendwann Luft kam und nichts mehr ging. Jetzt also entlüften, schön nach Handbuch. Und dabei die Reihenfolge falsch hingekriegt und erst am Feinfilter direkt am Motor, danach am Grobfilter entlüftet, der noch vor dem Feinfilter sitzt. Also nochmal am Feinfilter Diesel durch die Entlüftungsschraube gepumpt, bis sicher keine Luft mehr in der Leitung war. Bis dahin hatte ich die Prozedur auch schonmal gemacht, nach dem Wechsel der Filter vor Beginn der Reise. Damals hatte das gereicht und der Motor war nach wenigen Umdrehungen mit dem Anlasser wieder angesprungen. Also erster Startversuch. Funktioniert nicht. Im Handbuch steht, dass als nächstes die Hochdruckleitungen von der Einspritzpumpe zu den Zylindern einzeln entlüftet werden sollen, und zwar indem man jeweils eine Leitung abschraubt, den Motor mit dem Anlasser dreht und dann die Schraube zudreht, sobald Diesel austritt. Prima. Die Schraube geht kaum ab, ist noch komplett beschichte, die hat noch nie jemand abgemacht. Es braucht ordentlich Kraft auf dem Schraubenschlüssel, um sie loszumachen. Aber was sein muss, muss sein. Dann starten wir den Anlasser. Lassen ihn zehn Sekunden laufen, aber es kommt kein Diesel. Lassen ihn eine halbe Minute laufen, aber es kommt kein Diesel. Kann man den Motor überhaupt so lange mit dem Anlasser drehen, ohne dass er wegen fehlender Schmierung kaputt geht? Anruf beim Experten in der Familie: "Ja, kann man, müsste aber eigentlich nach ein paar Umdrehungen was kommen. Sonst musst Du halt noch den Zulauf der Pumpe entlüften. Oder die russische Methode, die Einspritzpumpe am Anschluss der Zylinderleitungen mit Diesel füllen."
Ich beschreibe die Leitung vom Feinfilter zur Einspritzpumpe und den Anschluss der Leitung an der Pumpe. "Das ist doch eine Entlüftungsschraube!" Schön wär's, steht aber nichts von im Handbuch. Da steht nur: Feinfilter entlüften, und dann die Nummer mit der Hochdruckleitung. Auf dem Rechner habe ich noch ein Handbuch für unseren Motor, das sich an den professionellen Mechaniker richtet. Dort sind alle Teile des Motors nochmal genauer beschrieben. Und in der Tat ist dort die Schraube an der Leitung vor der Pumpe als Entlüftungsschraube aufgeführt. Warum in aller Welt nicht im Nutzerhandbuch? Wenn da das Entlüften der Leitungen bis zur Hochdruckleitung nach der Pumpe beschrieben ist?
Das Entlüften mit dieser letzten Schraube bringt jedenfalls den erhofften Heilungseffekt. Weitere Aktionen mit den Hochdruckleitungen sind dann gar nicht mehr nötig. Der Motor stottert kurz, als würde er Anlauf nehmen, dann läuft erst ein Zylinder, bald auch die zwei weiteren. Noch ein paar kurze Stotterer und alles läuft wieder bestens, wie bekannt. Ich höre auf jede kleinste Unwucht, jedes kleinste Geräusch, jede Abweichung vom Rhythmus, aber alles steht durch. Wir lassen den Motor eine halbe Stunde laufen. Ich bin froh, dass das funktioniert hat. Noch am gleichen Abend nehme ich mir das undichte Ventil vor, baue es aus, lerne die Konstruktion kennen, die glücklicherweise sehr einfach ist. Leider aber auch sehr fehleranfällig. Ein Konus mit einem Loch durch wird von einer Schraube mit Sprengring in place gehalten. Diese Sicherungsschraube muss also so fest angezogen sein, dass die Spannung des Sprengrings ausreicht, um Hülle und Innenteil so gegeneinander zu pressen, dass kein Wasser durchkommt. Damit das Teil aber als Ventil funktioniert, muss gleichzeitig die Spannung gering genug sein, dass man den Hebel noch drehen kann. Dafür ist der Sprengring da. Und der ist, nach dreißig Jahren, leider ziemlich verwittert und gar nicht mehr geeignet für die richtige Spannung. Weil dieses Ventil nur für die Entwässerung gebraucht wird und das, so hoffe ich, erst wieder zum Einwintern passiert, ziehe ich die Sicherung einfach so fest, dass kein Wasser mehr austritt. Bewegen kann man das Ventil nur, wenn vorher die Schraube wieder gelockert wird. Nicht so komfortabel, nicht optimal, aber jedenfalls dicht.
Der Motor und mein Verhältnis zum Motor sind also wieder gut in Schuss, als wir die Leinen lösen, um zur Bootstankstelle zu fahren. Wir wollen vor der Abfahrt den Tank füllen, damit uns nicht wieder Luft in die Leitung kommt. Der Kai, an dem die Zapfsäule steht, ist ziemlich räudig, nur mit alten Reifen behängt, wie die meisten Industriekais hier in der Gegend. An einer Stelle fehlen die Reifen sogar, und als wir angelegt haben sehen wir, dass knapp oberhalb der Wasserlinie ein alter, rostiger Eisenstab aus der Wand ragt, der vorher dazu da war, einen Reifen zu stabilisieren. Ich bin froh um unsere übertrieben großen Kugelfender, die wir schon zum Abfendern während des Sturms aufgeblasen und rausgehängt haben, und die uns jetzt schön weit von der Mole fernhalten.
Wir tanken voll, natürlich. Dann geht es raus aus dem Hafen.
Wir haben vor der Abfahrt die 35er, unsere kleine Genua angeschlagen, in Erwartung von fünf Beaufort, die der Wetterdienst vorhergesagt hat. Vor der Einfahrt von Fedje ist ein recht großes, aber noch gut durch Schären und Felsen geschütztes Becken. Dort ist das Wasser ruhig (außer bei östlichen Winden), man hat aber schon einen guten Blick auf den Fjord, der zwei Seemeilen weiter nördlich ins offene Meer übergeht. Von dort aus sehen wir, wie sich an den Felsen auf der gegenüberliegenden Seite die Wellen brechen, und wir sehen die Wellen selbst von Norden nach Süden durch den Fjord laufen. Die Wellen sind hoch und haben ordentliche Schaumkronen. Wir wechseln die 35er gegen die Starkwindfock. Weil während dem Zusammenlegen immer wieder Böen ins Segel fahren, dauert die Aktion eine ganze Weile. Schließlich geht das neue Vorsegel nach oben und wir nehmen Kurs aus der Bucht raus ins offene Wasser. Der Wind zieht uns gleich gut voran, und schon bald haben wir Fedje querab, nehmen Kurs Süd, und laufen die Wellen unterm Rumpf hindurch, dass das Wasser an den Seiten hervor sprudelt. Herrliches Segeln. Die Sache ist ein kleines bisschen überwältigend, weil ich nicht ganz glauben kann, dass wir das jetzt gerade machen. Vor kurzem war hier noch Sturm und jetzt segeln wir hier? Der Himmel ist noch von Wolken bedeckt, und in Luv sehen wir den einen oder anderen Schauer über Land ziehen. Sonne gibt es nicht.
Aber schon bald gibt sich dieses Gefühl der Unsicherheit. Aimé findet gut ihren Weg, und mit der Starkwindfock sind wir sogar unterpowert, machen trotz guten Winds nur um die fünf Knoten. Also wechseln wir wieder auf die 35er. Was auch gut klappt. Inzwischen sind wir eingespielt, auch wenn sich das Boot im Wellengang mal etwas stärker bewegt. Die Arbeit auf dem Vorschiff ist gut, Aktion, es passiert was, ich schaue nach achtern, blicke in den Wind, und freue mich, dass wir mit dem größeren Segel viel besser im Wasser liegen und besser vorankommen, nicht weniger stabil als vorher, aber mit unglaublich langen Surfs, wenn zwischendurch eine Bö und eine Welle so zusammenkommen, dass sie uns zusammen ein weites Stück vorantragen.
Später kommt die Sonne und die Szenerie entwickelt sich zur klassischen Rückseite. Sonne bricht durch die Wolkenlücken, die Schauerböen werden weniger. Größere Wolken steigen über der Inselkette in Luv von uns nach oben und vereisen, verbreiten sich dann flach fast konzentrisch in Zeitlupe nach außen, ein irrer Anblick. Nur eine Schauerbö erwischt uns, recht spät, dann doch noch, und deckt uns nicht nur mit Regen, sondern auch mit Hagelkörnern ein, die eine ganze Weile auf Deck und auf der Sprayhood liegen bleiben, bevor sie schmelzen. Es ist kalt heute, unter zehn Grad, und ich trage alle langen Unterhosen, die ich habe, dazu meine polartaugliche Marinejacke.
Am frühen Abend passieren wir Bergen. Der Tidenstrom läuft mit uns, und weil der Strom in dieser Gegend so stark ist, dass wir ihn für die Fahrtplanung berücksichtigen müssen, beschließen wir, noch weiter zu fahren. Mit Sonnenuntergang erreichen wir eine kleine Bucht zehn Seemeilen südlich von Bergen. Das Ankermanöver dauert lang, weil der Anker auf dem felsigen Boden eine ganze Weile nicht greift, und als wir mit allem fertig sind ist es schon dunkel.
Am nächsten Tag stehen wir um sechs Uhr auf. Der Wind soll weiter aus Nordwest wehen, wenn auch schwächer als am Vortag. Aber weil in den inneren Schärengewässern der Wind oft anders weht als weiter draußen an der Küste, sind wir auch mit dem leichten Ostwind zufrieden, der uns am frühen Vormittag über den Korsfjord und quer über den Bjørnafjord schiebt. Für heute haben wir uns viel vorgenommen. Der Wind soll in der kommenden Nacht auf Südwest drehen und bis auf sechs Beaufort auffrischen, und wir wollen deshalb vorher eine der wenigen unausweichlich offenen Stellen an der Küste, Sletta, passieren. Gegen Mittag schläft der Wind ein und wir starten den Motor. Damit hatten wir schon gerechnet. Strömung hindert uns am guten Vorankommen und wir suchen unser Glück, weniger Strömung, ganz am Rand des Fjords. Funktioniert, anders als in den flacheren Gewässern der Ostsee, leider nur eingeschränkt, weil die Felswände so steil abfallen, dass auch am Rand der Strom durch nichts gebremst wird. Am späten Nachmittag passieren wir Leirvik, und hier kentert der Strom und wir fahren plötzlich statt mit vier mit siebeneinhalb Knoten unserem Ziel entgegen.
Über die Sletta können wir segeln, aber kurz vor Haugesund schläft der Wind wieder ein. Noch immer haben wir den Strom mit uns, und beschließen deshalb, durch den schmalen Haugesund noch weiter zu fahren, bis es dunkel wird. Und landen schließlich in Kopervik, einer Kleinstadt mit etwa siebentausend Einwohnern, wo wir auch jetzt noch liegen. Den ganzen Tag hat es geregnet und aus Südwest geblasen, sodass ein Vorankommen zwar möglich, aber unglaublich mühsam gewesen wäre. Und wir brauchen unsere Kraft für die anstehenden langen Phasen, die uns wieder raus auf die Nordsee führen werden. Einige Nachtfahrten stehen an. Im besten Fall schaffen wir es von hier aus um Kap Lindesnes bis Mandal ohne Zwischenstopp, um dann von dort aus schon bald in Richtung Skagen aufzubrechen. Die Reise nähert sich wirklich ihrem Ende, und es ist ein merkwürdiges Zwischenstadium, in das mich dieser Umstand bringt. Ich bin fokussiert auf die Fahrt. Freue mich auch auf die Herausforderung, jetzt nochmal länger über See zu fahren. Gleichzeitig ist das alles auch sehr arbeitsintensiv und mühsam, und ich will bald ankommen. Und mich andererseits vorher nochmal gut erholen, nicht so bald losfahren. Noch ein wenig von Norwegen, von der Gegend hier sehen, nachdem wir in den letzten zwei Wochen fast nur unterwegs waren.
Der Wind hat inzwischen auf West gedreht. Für morgen sind noch starke Westwinde angesagt, sechs Beaufort, in Böen sieben bis acht. Deshalb können wir erstmal nur einen kurzen Schlag machen. Vorgesehen haben wir Tananger oder die Insel Rott. Dort enden die Schären des Westlands und wir müssen ein langes Stück Küste auf See entlang segeln, bevor es dann quer übers Skagerrak geht. Mit etwas Wetterglück ist das in einigen Tagen zu schaffen. Es kann aber auch länger dauern. In jedem Fall haben wir uns vorgenommen, nur dann zu segeln, wenn wir uns sicher sind, dass wirs gut hinkriegen, und uns nicht von Termindruck zu falschen Entscheidungen drängen zu lassen. Klar ist: Gegenan geht nicht. Und sieben Beaufort sind die Grenze. So und so sind die Tage und Nächte übers Meer meist Heavy Metal. Inzwischen haben wir aber auch schon einiges erlebt, sodass mich die anstehenden Fahrten nicht schrecken. Das Boot ist robust, und wir sind es inzwischen auch.
47
Seit zwei Tagen und zwei Nächten stürmt es inzwischen. Das Boot holt bei jeder Bö weit über und reißt inzwischen auch immer stärker an den Leinen. Der Wind hat auf Nordnordwest gedreht und kommt jetzt fast von vorne. Gegen den Südwest- und den Westwind waren wir noch ein wenig geschützt durch ein Haus am Kai, das wie ein Windbrecher wirkte. Mit dem Nordwind jetzt kriegen wir das Ganze nochmal mit full force. Obwohl er wenig Anlauf hat, baut der Wind im Hafenbecken außerdem eine ernstzunehmende Welle auf, die das Boot zusätzlich in Bewegung bringt. Wenn der Wind jetzt noch ein bisschen weiter dreht, wird er das Boot nicht mehr vom Steg weg, sondern dagegen drücken. Deshalb haben wir heute morgen schon die beiden großen Fender aufgeblasen und vorne und achtern platziert. Trotzdem graut es mir vor diesem Scheitelpunkt. Irgendwann im Lauf der Nacht wird das passieren.
Obwohl ich weiß, dass das Boot gut und sicher vertäut ist, raubt mir das heftige Einrucken den Schlaf. Ein Anholen der Spring, um die Vorleine vom Zug nach vorne zu entlasten, hat nicht gefruchtet. Ich sitze also wieder unter Deck und warte, dass der Wind ausreichend ab- oder die Müdigkeit ausreichend zunimmt, um endlich zu schlafen. Inzwischen scheint mir, dass es ewig weiter so stürmen wird. Hat sich in den vergangenen Wochen das Wetter zum Teil mehrmals am Tag verändert, ist jetzt, abgesehen von der sehr graduellen Änderung der Windrichtung, kein Wechsel mehr zu spüren. Und obwohl ich weiß, dass eben diese Windrichtung anzeigt, dass das Sturmtief langsam nach Westen oder Nordwesten abzieht, zeigt sich die Rückseite des Tiefs nicht wie sonst mit eitel Sonnenschein, etwas gemäßigtem Wind und steigendem Luftdruck. Im Gegenteil, die Sonne, die heute am Nachmittag kurzzeitig zu sehen war, ist wieder von Wolken bedeckt, Regen und Hagelschauer ziehen mit heftigen Böen über uns hinweg und der Luftdruck ist, nach kurzem Anstieg, wieder gefallen.
Positiv betrachtet ist es eine Erfahrung, von der ich sicher noch lange zehren werde. Selten zuvor habe ich einen so schweren Sturm erlebt. Zwischendurch habe ich Fluchtgedanken und wäre am liebsten gar nicht hier, sondern wieder zurück in Greifswald, am Ziel dieser Rückreise. Uns stehen noch eine Reihe längerer Passagen über die offene See bevor, von Tananger aus rund ums Kap Lindesnes bis Mandal, und von dort aus die 120 Seemeilen quer übers Skagerrak. Und das nächste Tiefdruckgebiet ist schon im Anzug. Ein Norweger, mit dem wir uns heute unterhalten haben und der das Wetter und die Gegend hier kennt, meinte, dass so ein Tief normalerweise frühestens Ende Oktober, eher im November zu erwarten ist und für Anfang August nicht normal ist. Er muss es wissen, er arbeitet auf einer Ölförderplattform draußen vor der Küste. Einerseits ist das beruhigend, weil es heißt, dass wir darauf hoffen können, dass sich das jetzt nicht so schnell wiederholt. Andererseits ist es aber auch beunruhigend, weil es heißt, dass die Herbst- und Winterstürme uns auch jetzt schon erwischen können. In den pilot charts ist der August bereits ein schlechter Monat, was Stürme angeht. Statistisch gesehen sind Stürme hier zwar nicht so wahrscheinlich wie in den folgenden Herbstmonaten, aber sie sind auch nicht so unwahrscheinlich wie in den Sommermonaten Juni und Juli, in denen es so gut wie keine Stürme gibt. Deshalb endet die Saison hier auch pünktlich am 15. August.
Das alles wussten wir. Und für diese Tage und diese Nächte hatte es der Wetterbericht auch vorhergesagt: Bis zu 50 Knoten Wind. 47 Knoten hat die Wetterstation von Fedje gemessen, die etwa dreihundert Meter von unserem Liegeplatz entfernt ist. Das sind neun Beaufort oder schlicht und ergreifend: Sturm. Was das auch im Hafen an Anspannung und Anstrengung bedeutet, war mir vorher nicht klar. Ich bin belehrt. Das kann deshalb von mir aus auch gerne mal wieder aufhören.
Eingeweht -- Sturm
Nach zwei sehr langen Schlägen über insgesamt 250 Seemeilen mit gutem Wind aus nördlichen Richtungen liegen wir jetzt seit zwei Tagen im Hafen von Fedje fest. Sturm. Der Wind weht mit vierzig Knoten aus West, draußen vor der Küste türmen sich die Wellen auf eine Höhe von neun Metern. Wir haben das boot mit dreifachen Vor- und Achterleinen und doppelten Springs gesichert, außerdem unsere großen Sturmfender aufgeblasen. Der Hafen von Fedje ist gut geschützt, sodass kein Schwell in den Hafen steht. Wir liegen auf der Ostseite eines massiven Betonkais, der außen mit Holz verschalt ist. Der Wind drückt das Boot also vom Steg weg und lässt es in den Böen so weit überholen, dass uns beim Frühstück (nach einer Nacht mit eher wenig Schlaf) Tassen, Teller, Marmeladen- und Schokocrèmegläser übern Tisch rutschen. Abgesehen von einer dauerhaft im letzten Winkel des Hafens mit sehr vielen Leinen und zusätzlichen Ankern vertäuten Bavaria 38 sind wir das einzige Segelboot im Hafen. Ein riesiger Hochseefischer hat am Industriekai gegenüber festgemacht, um den Sturm hier abzuwettern.
Die Fahrt von Uthaug bis hierher verlief dank eines nördlichen Winds recht zügig. Von Uthaug aus führt der Weg durch die Trondheimsleia, und weil das Wetter sehr stabil war, segelten wir die Nacht durch. Inzwischen sind Nachtfahrten auch wieder Nachtfahrten, von eins bis drei ist es, abgesehen von einem sanften Leuchten am nördlichen Horizont, ganz dunkel. Am Abend war der Himmel von kleinen Wolken bedeckt, die eine stabile Luftschichtung anzeigen. Trotzdem bargen wir gegen Mitternacht mit der letzten Helligkeit das Großsegel und ließen nur die große Genua stehen, um für einen auffrischenden Wind noch etwas Reserven zu haben. Unter Vollzeug waren wir die Stunden davor mit sechs bis sieben Knoten gen Süden gesegelt und hatten es also nicht mehr ganz so eilig. Gegen halb drei, ich hatte gerade Wache, kam von achtern ein Großschiff auf uns zu. Mit guter Sicht konnte ich das eine ganze Weile beobachten. Bei einer Entfernung von drei Meilen wurde das AIS-Signal auf dem Kartenplotter sichtbar. Soweit so gut. Dass es ein Kollisionskurs ist, hatte ich oben schon gesehen, das Schiff zeigte uns beständig rot und grün, das ganze Buglicht also, das man nur sieht, wenn ein Schiff direkt auf einen zukommt. Aber unser Kurs führte auch entlang der üblichen Schiffahrtsroute, sodass ich davon ausging, dass der aufkommende Frachter (dass es ein Frachter war konnte ich in den AIS-Daten sehen) irgendwann ausscheren würde, um uns zu überholen. Vier Minuten vor impact war ich mir nicht mehr so sicher. Beherzt und auch etwas eilig schaute ich im Plotter nach dem Namen des Schiffs, zog das Handfunkgerät aus der Halterung und ging wieder an Deck. Keine Kursänderung. Auf Kanal 16 funkte ich den Frachter an. Am andern Ende der Verbindung eine verschlafene Stimme, aber immerhin wurde auf den Funkspruch reagiert. Ich bat um ein Gespräch auf Kanal 6, und vergaß dann vor lauter Aufregung die Etikette. Statt erstmal unsere Position mitzuteilen und die Situation kurz zu erklären funkte ich: "Hi, this is the sailing yacht Aimé, I just wanted to make sure that you see us or if we should go to starboard so that you can have your way." Eine Antwort über Funk blieb aus, aber das Schiff hinter uns änderte sehr abrupt seinen Kurs, um an Steuerbord an uns vorbei zu fahren.
Am Vormittag, als wir gerade aus der Trondheimsleia heraus fuhren, schlief der Wind ein. Wir bargen die Segel und motorten. Vom Ausgang der Trondheimsleia bis zur Einfahrt in den Fjord nach Alesund war ein Stück Strecke zurückzulegen, das seewärts sehr exponiert ist. Die alte Welle des Nordwestwinds, der in den vergangenen Tagen teils mit sechs Beaufort geweht hatte, traf uns hier direkt von der Seite. Lea übernahm ihre Wache, aber an Schlaf war wegen der heftigen Rollbewegungen kaum zu denken. Aber es nützt nichts. Die Flaute ist wirklich absolut. Keine vom Wind geriffelten Flächen whatsoever um uns herum. Erst kurz vor Alesund hebt sich wieder ein Lüftchen und wir setzen wieder Segel. Weil wir wegen der schnellen Fahrt am Vortag recht früh bei Alesund waren und dort auch wieder segeln konnten, entschieden wir uns dafür, den Tag trotz Müdigkeit noch zu nutzen und möglichst nahe an die Halbinsel Stad heranzufahren. Das Sturmtief, das uns jetzt hier im Hafen festhält und das Boot an den Leinen wild tanzen lässt, war schon angekündigt und wir wussten, dass wir den Nordwind und das gute Wetter nutzen mussten, um weiter nach Süden und am besten schon um die Halbinsel Stad zu kommen. Stad ist einer der wenigen Punkte an der norwegischen Küste, an der man keine Wahl hat zwischen Schären und See, man muss auf die See hinaus um Stad zu runden. Eine massive, hohe, felsige Halbinsel streckt sich hier weit raus ins Meer. Steil abfallende Felsen bilden ein radikales Kap, das nur bei günstigen Bedingungen gerundet werden kann, weil das Kap alle Wettereffekte verstärkt. Nach dem Durchzug des Tiefs wäre hier mit meterhohem Seegang zu rechnen, was selbst bei günstigen Windbedingungen eine Umrundung des Kaps unmöglich machen kann.
Am späten Nachmittag erreichten wir schließlich unser neues Tagesziel, eine kleine Bucht, von mehreren Schären umschlossen, Borgarøya. Dort gibt es einen Schwimmsteg, den der Segelklub einer nahegelegenen größeren Stadt gebaut hat. Ein wirklich schöner Ort. Weil wir nicht so spät dort waren und ich trotz Müdigkeit mal wieder Lust auf Fisch hatte, und auch Lust auf Angeln, warf ich die Angel noch ein wenig aus. Hatte aber nur Pech, verlor zwei Blinker und angelte eine Qualle, die ich dann mühsam vom Haken klauben musste. Danach war ich wirklich erschöpft, die Müdigkeit der Fahrtnacht schlug gut durch, ich ließ das Angelzeug im Cockpit liegen und legte mich schlafen. Schlief auch wunderbar bis elf Uhr am nächsten Morgen. Beim Frühstück erzählte Lea, die schon früher aufgestanden und ein wenig durch die Gegend gelaufen war, von einer Begegnung mit drei merkwürdigen Leuten, die am frühen Morgen mit einem kleinen Boot gekommen waren. Sahen irgendwie fertig aus, nervös, viel rauchend. Ein junger Typ und eine junge Frau, er ausgemergelt mit Armeejacke überm T-Shirt, sichtlich frierend, sie noch etwas besser genährt, mit schmutzigen Klamotten. Ihr Begleiter war ein mittelalter Typ, um die 40, der beim Boot der drei geblieben war. Sie benutzten die öffentlichen Toiletten, die zum Steg gehören (Borgerøya ist ein Ausflugsort, es gibt auch einen kleinen Grillplatz), und fuhren dann wieder ab.
Wir haben das auch in Rørvik gesehen, das nicht so nette und herausgeputzte Norwegen. Die Häuser ein wenig heruntergekommen, loser Putz, abblätternde Holzfarbe, die Spuren von zuviel Zigaretten und Alkohol in den Gesichtern der Leute, die an dem Sonntag vor ihren Häusern saßen oder auf der Straße unterwegs waren, abgerockte Klamotten, zum Teil aus Coolness, zum Teil weil neue Sachen teuer sind, Rost an den Karosserien von Kleinwagen, die ihr end of life in anderen Gegenden schon längst erreicht hätten. Aber diese Gegend war nicht so sehr Elend wie die drei Gestalten mit ihrem kleinen Boot, die auf der schönen Sommerinsel -- um die Bucht liegen eine Reihe von Sommerhäusern -- deplatziert wirkten. Man muss das erstmal zusammen bringen, diese wunderschöne Natur, die Berge, das Meer, und ein menschliches Elend, das hier eben doch aus den mittleren industriellen Ballungen entsteht, wie sie die Gegend, in der Borgerøya liegt, auszeichnet. Neben kleineren Städten sind auf der Fahrt durch die Fjorde und Schären hier und da Fabriken zu sehen, das meiste Fischverarbeitung, ein bisschen Ölindustrie. An die Felsen gebaut steht dann da eine Fabrik, und davor liegen zwei oder drei große Hochseetrawler, die hier ihren Fang abladen. Laut Revierhandbuch wird hier für den Weltmarkt produziert, man exportiert vor allem nach Europa und Asien. Und wo Industriearbeit ist, ist auch Ausbeutung und Elend. Klingt mir selbst zu einfach, aber eine ausgedehnte kulturgeschichtliche Analyse schaffe ich hier nicht (woanders vermutlich auch nicht).
Die Geschichte ging jedenfalls ärgerlich zuende, als ich nämlich nach dem Frühstück an Deck kam, war meine Angel weg. Die drei Leute waren die einzigen Besucher gewesen, wir hatten die Nacht über allein am Steg gelegen, und von Land hätte in der Nacht kaum jemand kommen können, war ja eine kleine Insel. Lea hatte die drei beim Wegfahren noch mit etwas hantieren sehen. Am Abend zuvor hatte ich noch kurz gedacht: Und was, wenn jetzt jemand kommt und uns was Böses will?
Am frühen Nachmittag brachen wir in Borgarøya auf, motorten trotz guten Winds quer über die Bucht, um zügig durch den Windschatten in Lee der nächsten Insel zu kommen. Zehn Meilen vor Stad wurde der Wind etwas stabiler und wir setzten die Segel. Machten sehr bald gute fünf bis sechs Knoten. Fahren wollten wir so, dass wir spätestens am morgigen Abend in einem besonders gut geschützten Hafen ankommen würden. Auf der Hinfahrt hatten wir nur einen solchen Hafen selbst gesehen, Fedje. Von Stad bis Fedje sind es auf dem Seeweg, also nicht durch die Fjorde, etwas mehr als achtzig Meilen. Und weil das Wetter noch etwa 30 Stunden halten sollte, entschieden wir uns für die Seeoption. Mit etwas Aufregung meinerseits, weil eine der vielen Stimmen in mir recht deutlich sagte: Bist du verrückt? Ein Sturmtief zieht an und ihr begebt euch ohne Not raus auf die Nordsee? Die Gründe für diesen Hopser überwogen aber schließlich. Und ich bin jetzt sehr froh, dass wir nach Fedje gefahren sind. Sicher, weiter innen in den Fjorden wäre der Wind nicht so stark wie hier. Aber wir kannten den Hafen schon und wussten, dass es hier diese Mole gibt, an der wir den Sturm gut würden abwettern können.
Bald schon hatten wir Stad querab. Eine andere Segelyacht, die kurz vor uns ums Kap gegangen war, hielt inzwischen Kurs auf Måløy, in die Schären hinein. Wir setzten Kurs ab aufs nächste Kap. Zunächst kamen wir gut voran, segelten unter Vollzeug bei langsam abflauendem Wind um die fünf Knoten. Aber gegen Abend schlief dann der Wind ein und wir bargen die Segel, starteten den Motor. Auf Wind warten, was wir sonst durchaus gemacht hätten, kam wegen des anziehenden Tiefs nicht in Frage. Trotz eines Zeitpuffers von etwa zwölf Stunden wollten wir so schnell wie möglich in Fedje sein. Und wir haben noch Sprit für etwa zwanzig Stunden motoren im Tank, das sollte also locker ausreichen. Bis Fedje sind es nur noch sechzig Meilen, dafür bräuchten wir unter Motor, also wenn anders als angekündigt kein Wind mehr kommen sollte, zwölf Stunden.
Um Mitternacht übernahm Lea die erste Wache. Das Boot bewegte sich mit Wellen von der Seite eher unangenehm. Ich schlief nicht, sondern machte mich am Plotter mit Ausweichmöglichkeiten vertraut. Wo könnten wir in die Schären einfahren, wo sind mögliche Schutzhäfen, die wir anlaufen können? Das Tief und der schnell abflauende Wind haben mich nervös gemacht. Gegen zwei löse ich Lea ab. Wir legen fest, dass wir erst Segel setzen, wenn wir zuverlässig wissen, dass uns das ausreichend zügig, also mit wenigstens vier Knoten, voranbringt. Der Himmel ist bewölkt und erstmals ist die Nacht wirklich zappenduster. die See ist nicht zu sehen, und diesmal auch kein heller Streifen mehr am Horizont. Nur die Leuchttürme an der Küste und von weit draußen der Widerschein der Bohrinseln dringen durch die Nacht. Ohne Sicht aufs Wasser ist es sehr schwer, die Windstärke richtig einzuschätzen. Kurz bevor es hell wird hebt sich der Wind so stark, dass klar wird: Wir können segeln. Aber Lea schläft noch und ich will sie nicht wecken, bevor ihre Wache anfängt. Eine Stunde mehr oder weniger ist bei einer Fahrt von fast zwanzig Stunden ja dann auch egal. Das Boot fährt unter Segeln zwar deutlich stabiler, aber noch ist die Situation auszuhalten.
Während langsam der Tag anbricht und das Wasser wieder sichtbar wird, steigert sich der Wind innerhalb kurzer Zeit auf fünf Beaufort. Die Wellen sind jetzt auch höher und versperren zum Teil schon die Sicht auf den Horizont. Aimé wird rabiat geschubst. Wir brauchen jetzt Segel. Ich wecke Lea. Sie ist sofort da und kaum restmüde, was mich einigermaßen überrascht, weil wir beide bei diesen Nachtfahrten nicht genug Schlaf kriegen. Wir gehen zusammen an Deck und setzen zuerst das Großsegel. Lea steht am Ruder, ich setze am Mast stehend das Segel. Weil der Wind nicht so wirkt, als würde er bald wieder abflauen, und weil es inzwischen wirklich frisch weht, die Wellen um uns herum regelmäßig Schaumkronen haben, setzen wir das Segel gleich ins dritte Reff. In dem Moment, in dem ich gerade die letzten Handgriffe mache, stirbt der Motor. Ich merke erst gar nicht, was los ist, weil dieser Moment auch sonst der Moment ist, in dem wir den Motor stoppen und erstmal unter Großsegel auf Kurs gehen, um dann das Vorsegel vorzubereiten. Lea sagt, dass der Motor von alleine ausgegangen ist. Mir fährt der Schreck in alle Glieder. Ich betätige den Anlasser, und der Motor springt an. Erleichterung. Aber statt rund zu laufen fängt er an zu stottern und stirbt wieder ab, trotz Gas geben. Entweder der Sprit ist alle oder er hat bei der heftigen Schaukelei trotz der fünfzig Liter, die eigentlich noch im Tank sein sollten, Luft gezogen. Oder er ist aus anderen Gründen kaputt. Klar ist jedenfalls: Der Motor läuft nicht mehr, wir sind auf hoher See, bis zum nächsten Hafen sind es noch dreißig Meilen, dort müssen wir unter Segeln anlegen, ein Sturmtief ist im Anzug.
Manchmal bringen mich solche Situation in einen merkwürdig effizienten Modus. Ich packe die große Genua, die vom Leichtwind am Abend zuvor noch an der Reling hängt, weg, ziehe sie dazu direkt unter Deck, ohne sie vorher ordentlich in den Sack zu packen, weil Wind und Wellen schon zu stark sind, um das große Segel ordentlich zusammenzulegen. (Merke: Nachts heißt Segel bergen Segel wegpacken.) Wir machen allein mit dem Großsegel im dritten Reff vier bis fünf Knoten Fahrt. Ich hole die Starkwindfock an Deck und schlage sie an, und bald sind wir wieder ordentlich besegelt. Wir haben einen etwas raumeren Kurs als Halbwindkurs, und mit der neuen Besegelung drückt uns der Wind mit sechs bis sieben Knoten konstant voran. Weil wir vor einer Leeküste fahren machen wir einen kleinen Luvbogen. Der Wind nimmt weiter zu, und auch die Wellen nehmen weiter zu. Ab und zu erwischt uns eine besonders große und legt uns so weit auf die Seite, dass das aufgefierte Großsegel durchs Wasser schleift. Scary. Aber noch will ich kein Segel wegnehmen. Wir wollen so bald wie möglich nach Fedje. Lea steuert das Boot durch die Wellen und ich plane unter Deck den Landfall und das Anlegen unter Segeln. Nicht einfach, aber wir haben Glück. Beim jetzt beständig wehenden West- bis Nordwestwind können wir Fedje gut anlaufen und auch durch die enge Fahrrinne der Einfahrt bis in den Hafen segeln. Der Steg, an den wir wollen, verläuft auch in der richtigen Richtung, also so, dass der Wind schräg davon weg weht. Wir können also einen Aufschießer machen und sind dann direkt längsseits, haben ein wenig Platz zum Auslaufen, und wenns nicht klappt ziehen wir das Segel schnell wieder hoch und versuchens nochmal. Vorausgesetzt, der Steg ist frei. Was ich sehr hoffe. Ansonsten ist hinter dem Steg noch eine holzverschalte Kaimauer, die auch als Gästesteg genutzt wird. Die ist allerdings problematisch, weil sie ganz hinten, südwestlich, im Hafenbecken liegt, und wir deshalb keinen Raum für den Aufschießer haben. Die Kaimauer müssten wir mit halbem Wind anlaufen, dann eine sehr enge Kurve fahren, um möglichst viel Fahrt zu verlieren, und dann die Restfahrt mit den Leinen bremsen. Riskant.
Als ich nach dieser Planung wieder an Deck komme, hat der Wind weiter zugenommen und weht jetzt mit fünf bis sechs Beaufort. Die Wellen erreichen eine Höhe von zweieinhalb Metern. Von der Seite ist das sehr unangenehm. Aber schon bald können wir abfallen und endlich, endlich mit raumem Wind Kurs auf Fedje nehmen, das noch etwa fünfzehn Meilen entfernt ist. Es ist neun Uhr, aber besonders hell ist es nicht geworden an diesem Vormittag. Der Himmel ist mit Wolken bedeckt, und nördlich und westlich von uns hat sicher Horizont langsam immer weiter eingedunkelt. Das Wetter vertieft sich langsam. für den Tag ist eine Besserung angekündigt, aber auch einzelne Schauerböen. Eine davon, eine ziemlich ausgedehnte, verfolgt uns jetzt also und kommt langsam näher. Etwa zehn Meilen vor Fedje bergen wir deshalb das Großsegel, um etwas Reserve zu haben. In der Schauerbö wird der Wind nochmal auffrischen, und mit beiden Segeln sind wir jetzt schon am Limit. Aimé surft die Wellen runter wie nichts Gutes, und im ganzen System ist viel Druck, das Boot lässt sich nicht so leicht auf Kurs halten. Mit dem Vorsegel allein stablisiert sich das Boot. Die Wellen schubsen nicht mehr so stark, sondern laufen jetzt wegen der geringeren Fahrt ruhig unterm Boot durch. Und mit dem Segeldruckpunkt weiter vorne lässt sich das Boot jetzt auch viel besser auf Kurs halten. Mit der Nervosität im Fahrverhalten schwindet auch meine eigene Nervosität. Ich kann wieder nach links und rechts schauen, sehe, wie die Wellen an den dunklen Felsen von Utvær brechen und weiße Gischt versprühen, sehe in der Ferne die Berge des norwegischen Festlandsockels, und vor uns erscheint langsam die Insel Fedje über dem Horizont.
Die Schauerbö erreicht uns kurz vor der Einfahrt in den Hafen. In der kleinen, nach Osten offenen Bucht vor dem Hafen drehen wir das Boot nur mit dem Vorsegel an den Wind und lassen uns mit langsamer fahrt über die Bucht ziehen, um Leinen und Fender vorzubereiten. Wir sind zu müde und erschöpft, um an die großen roten Fender zu denken, die wir eigentlich auch für solche Situationen an Bord haben. Weil die Teile aufgeblasen zu viel Platz wegnehmen, lagern sie ohne Luft unter Deck. Wahrscheinlich scheuen wir die Mühe und denken deshalb nicht mal daran. Es wird auch so gehen. Ich bin froh, dass wir den Hafen schon kennen und genau wissen, wie und wo wir zwischen den Perches -- den kleinen eisernen Stangen, die hier oft schmale Fahrwasser zwischen Untiefen hindurch bezeichnen -- fahren müssen, wieviel Platz wir im Hafenbecken haben und wo es tief genug ist für uns, um anzulegen, und wo nicht.
In der Einfahrt versuche ich nochmal, den Motor zu starten. Und tatsächlich springt er an! Große Erleichterung. Das ist unter diesen Windbedingungen dann doch einfacher und sicherer. Wir lassen das Segel zur Sicherheit aber noch oben, bis wir im Hafenbecken sind. Und bevor wir es runternehmen können, stirbt der Motor auch schon wieder ab. Also doch unter Segeln. Die Schauerbö schiebt uns schnell durch die Einfahrt, und als wir ins Hafenbecken einfahren, sehen wir, dass die beiden Schwimmstege, die für unser Manöver in Frage kommen, belegt sind. Am vorderen Schwimmsteg liegen zwei Yachten, am hinteren eine, allerdings eine sehr große, die den gesamten Platz belegt. Kurz überlege ich, einfach an der Yacht anzulegen und das Boot dann von Hand zu verholen, verwerfe den Gedanken aber wieder. Lieber nichts kaputt machen. Und der Kai noch hinter dem Schwimmsteg, am südwestlichen Ende des Hafenbeckens, ist frei. Auch wenn es nicht so günstig ist, möglich ist es doch.
Dann geht alles sehr schnell. Mit Rauschefahrt in der Bö sind wir am Schwimmsteg vorbei. Ich hole weit aus, lasse das Boot bis kurz vor den Fährkai fahren, steuere dann an der Südkante der Einfahrt mit halbem Wind entlang. Lea steht am Fall. Der Punkt, an dem das Segel geborgen wird, ist kritisch. Fällt das Segel zu früh, schaffen wir es nicht an den Steg und möglicherweise auch nicht mehr durch den Wind, weil wir ja mit halbem Wind anfahren müssen und keinen Aufschießer auf den Steg zu machen können. Erst ganz am Ende können wir drehen. Bergen wir das Segel zu spät, haben wir zuviel Fahrt und fahren am Steg vorbei gegen die schicke Aluyacht, die am Schwimmsteg direkt davor liegt. Insgesamt sind da nicht mehr als dreißig Meter Platz.
Das Segel fällt, Lea befestigt das Tuch mit einem schnellen Zeising, nimmt dann die Vorleine, und dann sind wir auch schon am Steg, ich lege das Ruder hart Steuerbord, versuche damit etwas Fahrt zu killen, bringe das Boot mit der scharfen Drehung dabei längsseits an den Steg. Lea klettert hoch -- der Steg ist etwa 1,5 Meter über der Bordwand (Tidengewässer!) -- und legt die Vorleine locker über einen Poller, wartet, bis das Boot steht. Bremsen könnte man besser mit der Achterleine, aber gegen den Wind halten kann man das Boot nur mit der Vorleine. Ein Dilemma, das wir zugunsten der Vorleine entschieden haben. Aber jetzt haben wir zuviel Fahrt und kommen der Aluyacht näher, Lea bringt etwas Zug auf die Vorleine, der Bug dreht zum Steg und macht mit der Bordkante einen nicht ganz sanften Einschlag in die Holzverschalung. Dann stehen wir. Ein kleiner Abdruck am Steg, am Boot ist nichts zu sehen, wir machen die Leinen fest. Ein Mann von der Aluyacht nimmt die Achterleine an, das Schiff kommt aus Holland und ist auf dem Rückweg. Wir sind jetzt erstmal hier fest. Es ist halb elf Uhr morgens und wir habens geschafft. Feierabend. Frühstück.
Liten Kuling -- Stiv Kuling
Jetzt sind wir wirklich auf dem Rückweg. Und haben es eilig. Niemand mit Zeit und Verstand fährt bei sechs bis sieben Beaufort gegenan. Wir wussten, worauf wir uns einlassen, der Wetterbericht hatte den kleinen Starkwind oder kleinen Sturm auch angekündigt: zeitweise liten kuling aus Südwest. Nach Südwesten wollten wir. Nach zwei Tagen mit wenig Wind hatten wir uns auf Wind gefreut. Liten kuling sind sechs Beaufort. Für Aimé eigentlich kein Problem, solange die Wellen nicht zu hoch sind. Und solange aus dem kleinen Starkwind kein richtiger Starkwind wird.
Eigentlich begann die Fahrt heute schon am Abend zuvor. Weil wir recht früh unser Tagesziel erreicht hatten, fuhren wir noch eine Stunde weiter und ankerten in einer Bucht, die ich im Norske Los -- das ist das sehr detaillierte offizielle Revierhandbuch des norwegischen Seekartenamts -- gefunden hatte. Harbaksvika, die Bucht, ist nach Süden und Südwesten prima geschützt. Aber nach Nordnordwest ist sie sehr weit offen. Windtechnisch war das kein Problem, weil in der Nacht der Wind schon aus Süden blies, aber durch den Schwell, der von See seinen Weg durch die Schären findet, und durch die Wellen vorbeifahrender Schiffe, lagen wir sehr unruhig.
Wegen der Pläne für den folgenden Tag war ich aufgeregt und konnte nicht gut einschlafen, wachte dann, als der Wind schon zunahm, immer wieder auf. Um sechs klingelte der Wecker. Es blies unglaublich böig und regnete in Strömen, die Sicht war so schlecht, dass wir kaum die Felsen um die Bucht sehen konnten. Kein Wetter um loszufahren.
Gegen zehn Uhr klarte es auf. Schnelles Frühstück, dann Kartenarbeit mit den aktuellen Wetterberichten, um zu entscheiden, ob wir den ursprünglich geplanten Weg außen an den Schären entlang und bis in einen vierzig Seemeilen Luftlinie entfernten Hafen noch schaffen wollen oder lieber innerhalb des Schärengürtels mühsam hundert Steine umkreuzen, dafür aber weniger Seegang und etwas weniger starken Wind haben, außerdem verschiedene Anlaufmöglichkeiten.
Wegen der Starkwindvorhersage und weil es schon spät war, entschieden wir uns für den Schutz der Schären, ohne hohe Wellen kreuzt es sich einfach angenehmer. Die Fahrt verlief auch gut, gegen Mittag kam die Sonne raus, es wurde ein herrliches Segeln inmitten einer kargen Fels- und Schärenlandschaft. Herrlich. Wir segelten mit unserer Starkwindfock und dem Großsegel im dritten Reff gute fünf Knoten hoch am Wind, konnten einige Strecken sogar anliegen. Erst gegen Nachmittag drehte der Wind etwas weiter südlich und wir mussten durch die engen Fjorde und Sunde aufkreuzen. Was vor allem anstrengend für die Navigation ist, die Lea übernommen hatte. Etwa zehn Meilen vor unserem Ziel, Uthaug, frischte der Wind weiter auf und wehte mit konstant sieben Beaufort. Wir segelten entlang einer Leeküste, keine halbe Seemeile vom steinigen Ufer, entlang einer schmalen Fahrrinne, von vorne kommt ein großes Schiff, von hinten kommt ein großes Schiff -- das war der Moment, an dem ich dachte: Warum zum Teufel sind wir denn heute losgefahren? Anstatt im Hafen oder vor Anker zu bleiben und den Tag zu genießen.
Wir kreuzten uns ein kleines Stück von der Küste frei und wechselten die Starkwindfock gegen die Sturmfock. Anfangs waren wir damit noch langsam, aber schon bald frischte der Wind noch weiter auf und Aimé segelte mit so wenig Tuch wie selten wieder gute vier Knoten gegenan. Bei Starkwind wird irgendwann der Wendewinkel immer schlechter, weil das Boot nicht mehr so hart am Wind zu halten ist. Die Segel müssen etwas offener gefahren werden, um noch Headway gegen Wind und Wellen zu machen.
Der Himmel zog sich zu, die Wolken verdichteten sich zu ausgedehnten Schauerböen, die uns ordentlich auf die Seite legten. Die Wellen wurden größer und wuschen jetzt immer wieder übers Deck. Wir blieben gut gelaunt, es waren die letzten zwei Meilen, bevor wir dann endlich endlich, am Ende des Tages, für zwei kurze Meilen nochmal dreißig Grad abfallen konnten und mit Rumpfgeschwindigkeit, 7,5 Knoten, auf den Hafen zuliefen. Der Hafen von Uthaug ist glücklicherweise recht weitläufig, sodass wir in den Hafen segeln konnten. Mussten wir auch. Mit unserem Motor wären wir kaum gegen die hohen, steilen und schnell laufenden Wellen angekommen. Ganz zu schweigen davon, dass das Bergen der Segel ein Affront gewesen wäre. Segelnd ging die Einfahrt also leichter. Nach der Einfahrt ein Aufschießer und im ruhigen Wasser dann entspannt einpacken. Der Fischer, der direkt nach uns einlief, trat kurz aus seinem Haus aufs Seitendeck und grüßte uns.
Wir haben keinen Windmesser an Bord, aber der aktualisierte Wetterbericht hatte die Winddaten für den Abend nochmal nach oben korrigiert auf 30 Knoten Wind, oder stiv kuling, wie das auf norwegisch heißt. Das finde ich jetzt natürlich wieder total abenteuerlich. Ich hab mir aber auch sehr fest vorgenommen, mir bei der nächsten Starkwindvorhersage genau zu überlegen, ob das jetzt sein muss. Oder eben lieber nicht.
Am nächsten Tag: Der Sturm hat sich in der Nacht ausgeweht, jetzt scheint wieder die Sonne, draußen ist Flaute. Wir fahren trotzdem los, müssen weiter, wollen weiter. Nicht zuletzt wegen der Düsenjets, die hier knapp über unserer Mastspitze ihren Landeanflug machen. Nicht weit von hier ist der wichtigste Stützpunkt der norwegischen Luftwaffe. Merkwürdig, für Pazifisten übel, andererseits lustig: Wie hier alle zwanzig Minuten das Dröhnen der Jets die postkartenidyllische Stille zerreißt.
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