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Es fühlt sich an, als sei es schon länger her, weil das Boot inzwischen
eingewintert ist, aber erst gestern früh um neun bin ich von wieck zum
Liegeplatz gefahren, habe mit Hängen und Würgen das Boot in die Box gelegt und
die Winterfahrt zum Abschluss gebracht.
Die letzte Fahrt von Hiddensee bis Wieck war wunderbar. Nach zwei Tagen mit
sehr schlechter Sicht, viel Wind und Regen waren die Wolken am morgen
verschwunden und die Dämmerung leuchtete rot hinter dem östlichen Horizont,
hinter Rügen herauf. Ich war schon früh wach, hatte für die fünfzehn Meilen
bis zur Brücke in Stralsund dreieinhalb Stunden eingeplant, obwohl der Wind
eine schnellere Fahrt erhoffen ließ. Aber allein unterwegs bin ich etwas
langsamer als mit Crew, einfach weil ich weniger Segel setze, so jedenfalls
auf der Hinfahrt. Mit vier bis fünf Knoten und Puffer für bis zu zwei Beaufort
nach oben hatte ich mich damit wohl gefühlt.
Also stand ich früh auf, trotzdem gut ausgeschlafen, weil am abend rechtzeitig
zu Bett, packte das Stromkabel ein, schlug die Segel an, sortierte die Leinen,
startete den Motor. Der Wind wehte inzwischen aus Nordwest, also von schräg
vorne, so, dass das Boot gegen die Mole gedrückt wurde. Ablegen deshalb
problematisch. Zu zweit lässts ich das Boot bei fast jeder Windsituation gut
händeln. Alleine ist das nicht so einfach. Die klassische Situation, wenn das
Boot über die Vorspring manövriert wird, ist allein nicht so einfach zu
bewerkstelligen, vor allem dann nicht, wenn das Hafenbecken recht klein ist. Entweder ich habe Hilfe von außen,
also jemand, der die Leine an Land loswirft, wenn das Boot mit dem Heck
ausreichend weit raus gedreht ist und ich rückwärts fahren kann, oder ich muss
die Leine sehr lang lassen, auf Slip legen und dann kurz nach dem rausziehen
rückwärts nochmal aufstoppen, nach vorne laufen und die Leine lösen. Bei
solchen zeitkritischen Aktionen muss dann aber auch alles klappen, sonst kann
das Manöver schnell aus dem Ruder laufen.
Eine zweite Möglichkeit ist, das Boot mit dem Bootshaken weit genug vom Steg
wegzudrücken, um rückwärts wegzufahren. Das probierte ich aus, während das
Boot noch an den Leinen hing. Funktioniert. Also Leinen los. Ich nehme die
Leinen an Land weg, drücke dann das Boot von Land aus weg von der Mole, steige
an Bord -- leider falsch gemacht. Der Wind schiebt das Boot rückwärts und
drückt es sofort wieder an die Mole, noch bevor ich den Bootshaken ansetzen
kann. Als ich den Bootshaken an der abgerundeten Molenkante endlich angesetzt
habe, machen wir schon rückwärts Fahrt. Ich drücke mit aller Kraft, als mich
plötzlich ein Typ anspricht, der gerade mit seinem Fahrrad vorgefahren ist.
Ich schulde ihm noch Geld. Wegen dem Strom. Kurz bin ich
entgeistert, dann gehe ich ins Cockpit, stoppe das Boot auf und lege die
Vorspring nochmal fest. Ist wohl einer der Fischer. Im letzten Moment. Aber das Manöver war sowieso verpatzt. Wahrscheinlich hat
mir der Fischer sogar irgendwas gerettet, den großen Fender hätte ich
sicher abrasiert und dann wieder auffischen müssen, oder schlimmer,
das Boot wäre mit dem Bugkorb an einem der Dalben hängengeblieben.
Obwohl ich gleich zu Rechtfertigungen greife (ich hätte geschaut, aber da sei
keiner gewesen usw.) bleiben die beiden, inzwischen ist noch ein zweiter
gekommen, freundlich. Fragen, wo ich hin will, ob das Boot den Winter über im
Wasser bleibt und so. Obwohl ich wegen der Brücke ein wenig in Eile bin, bin
ich auch neugierig. Während der Saison kommt man mit den Fischern nicht so gut
ins Gespräch. Im Sommer werden die von Touristen belagert und sind deshalb
meist recht wortkarg. Jetzt im Winter fahren sie auch raus, Hering ist
möglich, aber man weiß es nicht genau, kann auch sein dass nicht. Ein wenig
überrascht bin ich, als einer der beiden meint, dass sie nur bis fünf Beaufort
überhaupt rausfahren. Weniger wegen dem Wind als wegen den Wellen, "da
springen dir die Fische aus der Kiste". Segelboote seien eben stabiler in der
Welle. Stimmt. Und ist mir, wo er das erklärt, auch völlig verständlich.
Irgendwie hab ich trotzdem immer gedacht, dass die Fischer bei jedem Wind und
Wetter rausfahren. Vielleicht weil ich mal während eines Sturms über dem
Greifswalder Bodden zwei Fischer auf dem Ryck gesehen habe, die ihr Netz dort
einholten. Aber der Ryck ist eben ein kleiner Fluss, da gibts keine
ernstzunehmenden Wellen.
Weil ich nur einen Hunderter hab, die Fischer aber nicht wechseln können,
laufe ich zum Verkaufsschalter für die Fähre, wo man mir zwei Fünfziger gibt.
Immerhin. Einer der Fischer macht sich mit einem Fünfziger auf zum Wechseln.
Ich seh die Brücke schon langsam wieder zugehen. Und freue mich dabei heimlich
auf einen Gang in eine der ältesten Hafenkneipen Europas, meine Stralsunder
Lieblingskneipe, die ich bei den letzten Touren leider immer verpasst habe,
weil wir nicht in Stralsund übernachtet haben.
Aber schon ist der Fischer wieder da und hat das Geld gewechselt. Zwei Euro
pro Nacht wollen sie haben für den Strom. Ich drücke ihm einen Zehner in die
Hand, weil ich mit dem Heizlüfter bestimmt für zehn Euro Strom verbraucht
habe. Dann gehe ich an Bord, will jetzt zügig weg. Der zweite Fischer kümmert
sich um die Vorspring und so geht das Ablegen jetzt leicht von der
Hand. Ich winke und grüße, dann gehts raus auf den Bodden.
Weil der Wind während der ganzen Fahrt von hinten kommen wird, habe ich die
35er angeschlagen, das Arbeitssegel für fast alle Gelegenheiten bis fünf
Beaufort. Das Großsegel ist noch im dritten Reff, was gut zur 35er passt. Ein
Stück weiter draußen, Leinen und Fender habe ich schon weggepackt, setze ich
beide Segel. Dann nehme ich Kurs auf das Fahrwasser nach Stralsund. Der Wind
war im Hafen schon nicht schlecht, draußen ist er sogar deutlich stärker. Es
weht mit gut fünf Beaufort, in Böen sechs. Das Boot ist überpowert und
reagiert selbst auf Raumwindkurs sehr nervös. Mit sechseinhalb bis sieben
Knoten rasen wir durchs Fahrwasser. Ich mag schnellsegeln, aber bei diesem
Speed sind wir in zwei Stunden da, also eineinhalb Stunden zu früh. Im
Fahrwasser Segel wechseln geht aber auch nicht. Also schnell. Konzentriert
steuern, die Böen vorhersehen, das nervöse Austicken spüren, bevor es kommt.
Mit etwas Zeit und Konzentration werden meine Ruderausschläge geringer, ich
werde ruhiger, das Boot wird ruhiger. Und während ein Teil von mir beim
Steuern bleibt, lasse ich ein wenig die Gedanken schweifen, blicke zurück zur
Insel, wo ich in den vergangenen zwei Tagen bei ausgedehnten Spaziergängen
durch die abgedeckten Landschaften die reizarme Umgebung erst ertragen und
dann genossen habe.
Kurz vor Stralsund berge ich das Vorsegel und drehe bei. Außer mir ist nur ein
Motorboot unterwegs, das aber schon Kurs auf den Hafen genommen hat und von
uns weg fährt. Ich habe noch eine dreiviertel Stunde Zeit und gehe unter Deck,
koche mir einen zweiten Kaffee, schütte ein paar Nüsse ins Müsli, das ich
schon am Morgen vorbereitet habe. Am Kartentisch überlege ich, ob ich unter
Segeln durch die Brücke gehen kann. Der Wind weht so, dass er uns genau von
hinten schieben könnte. Ob das drin dann tatsächlich so aussieht, lässt sich
von hier draußen aber nicht sehen. Ich lasse das Vorsegel unten und nehme Kurs
auf den Hafen, fahre erstmal ohne Motor rein, das Segel kann ich dann vor der
Brücke immer noch bergen, wenn die Windverhältnisse nicht optimal sind. Denn
optimal müssen sie schon sein. Die Ziegelgrabenbrücke ist massiv, und wenn der
Wind ein wenig seitlich einfällt, bilden sich große Windlöcher. Und das ist
nicht gut, weil in der Durchfahrt immer ein Strom setzt und die dicken
Brückenpfeiler für böse Verwirbelungen sorgen. Das Boot muss immer in Fahrt
bleiben, sonst dreht es sich womöglich kreuz und quer. Und bei der Kälte wäre
im Falle eines Falles auch der Motor nicht schnell genug zu starten.
Aber der Wind steht tatsächlich direkt auf die Brücke. Ich fahre testweise
recht dicht heran, nur mit dem Großsegel kommt das Boot auf genug Speed, um
die Durchfahrt zu machen. Das Signal schaltet um von Gesperrt auf Bitte
Warten.
Zwanzig Minuten später geht die Brücke auf. Bei der Durchfahrt klopft mir das
Herz. Hoffentlich geht das gut. Manchmal nehme ich mir Dinge vor, die mir dann
in dem Moment, in dem ich sie durchführe, ungeheuerlich werden. Zumindest
kurz. Dann sind wir schon durch und folgen dem breiten Fahrwasser.
Von hier aus sind es noch zwanzig Meilen bis Wieck. Gut vier Stunden ist es
noch hell. Der Wind kommt von hinten und weht frisch genug, um uns mit fünf
Knoten oder mehr voran zu bringen. Weil das Boot auf der Fahrt nach Stralsund
mit beiden Segeln so unruhig war, berge ich jetzt das Großsegel und setze nur
das Vorsegel. Vor dem Wind läuft das Boot ruhiger, wenn mehr Segelfläche vorne
ist.
Als der Strelasund nach seinen Mäandern und der Hochspannungsleitung wieder
breiter wird, schalte ich den Autopiloten ein, wandere ein wenig über Deck,
öffne alle Luken, damit das Boot von innen etwas trocknen kann, lege mich im
Cockpit auf die Bank und halte das Gesicht in die Sonne. Der Himmel strahlt in
Blau, vereinzelt schweben weiße Wolken über Land, das Boot zieht seine Bahn
durchs kalte Wasser, niemand sonst ist unterwegs, die Erde, zumindest dieses
Stück, ist wild und verlassen, nur die Seevögel ziehen hier und da fliegend
oder schwimmend ihre Bahnen.
Kurz vor Stahlbrode werden wir langsamer. Ich setze das Großsegel. Langsam
geht der Tag zur Neige, die Sonne senkt sich im Westen schon zum Horizont. Vor
uns öffnet sich der Greifswalder Bodden. Die Luft ist so klar, dass ringsherum
alle Ufer zu sehen sind, und sogar die Silhouette der Greifswalder Oie ist in der Ferne klar
und deutlich zu erkennen. Mir geht das Herz auf und die Sehnsucht, die ich
lange nicht mehr gespürt habe, wird wieder groß. Einfach weiter fahren, raus
aufs Meer, heute abend einen Hafen finden, weil Sturm kommt, nach dem Sturm
weiterfahren, draußen sein, Segel setzen, Segel bergen, Routen planen, Kurse
steuern, den Wind von hinten an den Ohren spüren.
Und doch ist es gut, dass es wieder rein geht. Das anziehende Sturmtief
ist mit seiner warmen Luft (warm = vier bis fünf Grad über Null) das
Schlusswort vor dem Wintereinbruch. Aimé muss an ihren Liegeplatz und
eingewintert werden. Und ich muss wieder ins Warme, Sehnsucht hin oder her.
Die Dämmerung macht es mir trotzdem schwer, rot glüht der Himmel im Westen,
der Mond wird sichtbar, und die ersten Sterne. Die alten Plattformen haben wir
passiert, die Fahrwassertonnen heben sich nur noch als Schatten vor dem
langsam dunkler werdenden Himmel ab, die Leuchtfeuer und Leuchttonnen sind
schon eingeschaltet. Schon vor einer halben Stunde habe ich die
Navigationslichter angemacht, und immerhin ein Boot ist unterwegs, die
Küstenwache auf Patrouille. Letzte Blicke über den Bodden. Obwohl ich den
Kreis nicht geschafft habe, spüre ich ein Gefühl von accomplishment,
ich bin alleine im Winter eine Woche unterwegs gewesen, habe einen Sturm im
Hafen abgewettert, habe der Kälte getrotzt, das Boot alleine gesegelt und
gehändelt, und es hat, neben allem innerlichen Fluchen wenn Wetter oder
Material nicht so mitspielten, wie ich das gerne wollte, große Freude gemacht.
Kurz vor der Hafeneinfahrt berge ich beide Segel und bereite dann die Leinen
vor. Im Hafen ist es fast windstill und ich lege wieder längsseits dort an, wo
die Reise begonnen hat. Das Stromkabel schließe ich diesmal nicht an,
vielleicht erlässt mir der Hafenmeister die Gebühr. Am nächsten Morgen um neun
fahre ich durch die Brücke, die extra für mich geöffnet wird. Vielleicht sogar
das erste Mal in diesem Jahr?
Auf dem Weg zum Liegeplatz kommen mir zwei Fischer in einem kleinen Motorboot
entgegen, der Mann im Bug hebt grüßend die Hand. Die Leinen bereite ich vor,
während wir die lange, breite Gerade entlang fahren. Autopilot machts möglich.
Es hat angefangen zu nieseln und ich habe mir meine Regenhose und meine
Regenjacke angezogen. Der Himmel ist konturlos grau, das Sturmtief Axel
kündigt sich an. Noch aber weht der Wind nur mäßig aus Südwest. Dann sind wir
beim Liegeplatz, am Anfang und am Ende dieser Fahrt. Nachdem die meisten An- und Ablegemanöver in der
letzten Woche gut geklappt haben, vergeige ich das Einparken in die Box
gewaltig (aber ohne Schaden). Jetzt bleibt nur noch, das Boot einzuwintern.
Wasser aus den Leitungen drücken, Segel von der Bordwand weg, zum Teil in den
Salon, damit sie nicht gammeln, Fallen und Reffleinen abschlagen, Wasser aus
der Bilge, alles nochmal durchputzen, Batterien aus dem Barographen nehmen,
Bett abziehen, schmutzige Wäsche einpacken, leere Flaschen wegbringen, die
Heizung nochmal gut durchlaufen lassen, die Motorwelle ordentlich schmieren,
Polster hochstellen, Batterien laden, Achterstag entspannen, Leinen so
einstellen, dass das Boot mit dem Wasserstand auf und ab schwimmen kann, die
Persenning montieren, schließlich ein letzter Blick am Abend und Abschied bis
zum Frühjahr, wenn das Eis, das in den nächsten Wochen kommen wird, wieder
geschmolzen ist, Luft und Wasser wieder wärmer werden und die nächste Fahrt
beginnen kann.
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